Deutschland hat diese Prüfung im Großen und Ganzen gut bestanden. Es hat sich sehr klar für den Schutz der Gefährdeten entschieden. Ein früher, einschneidender und schmerzhafter Lockdown im letzten Frühjahr hat hohe Todesraten vermieden, nach der Lockerung im Sommer folgten erneute Schließungen und trotzt des zunehmenden Unmuts wird wohl die grundsätzliche Linie der Vorsicht nicht aufgegeben, bis die Krise hoffentlich im Sommer überwunden ist.
Die Entscheidung für die Rettung tausender von Leben war nicht selbstverständlich. Erkauft ist sie bei mit dem Verlust an Einkommen, mit dem Verzicht auf Lebensqualität, mit Isolation, beschränkten Chancen für Kinder und Jugendliche und mit einem nie dagewesenen Aufwand an Steuermitteln. Nicht für alle war die Grundsatzentscheidung deshalb so eindeutig. Der anerkannte Hamburger Rechtsmediziner Prof. Klaus Püschel äußerte beispielsweise zwei Monate nach Beginn der Pandemie die Überzeugung, die Angst vor dem Virus sei übertrieben: "Das Virus beeinflusst in einer völlig überzogenen Weise unser Leben. Das steht in keinem Verhältnis zu der Gefahr, die von ihm ausgeht." Püschel plädierte für einen selbstbestimmten Umgang mit dem Risiko. Die Pandemie sei "einzuordnen unter die vielen Gefahren und Krankheiten, die es im Leben gibt. Leben wir unser Leben, solange wir es haben."
Mit dieser fatalistischen Sicht mag der Professor die realen Gefahren der Krankheit zu diesem Zeitpunkt noch nicht erkannt haben. Einige Monate später war er und wir alle klüger, vor allem durch die rapide steigenden Infektionen in den USA oder in Brasilien. Aber auch da vertraten ganze Bevölkerungsgruppen in der Abwägung zwischen dem Schutz der Gefährdeten und der individuellen Freiheit weiterhin eine grundsätzlich andere Auffassung. Die AfD wehrt sich beispielsweise bis heute gegen die Beschränkungen und spricht von einer "Corona-Diktatur". Man müsste die Gefährdeten schützen, dann könnten die anderen ihr Leben ungehindert weiterleben. In der Realität hießt das wohl, die Schwachen dem "Gemeinwohl" zu opfern.
Zum Glück hat unsere Politik die Gefährdeten geschützt, wie übrigens auch die meisten anderen Länder der Welt. Aber es gibt eine Problemstellung, die die grundsätzliche Frage nach der Wertigkeit behinderten Lebens in dieser Krise noch einmal zugespitzt und neu stellt: Die Diskussion über die sogenannte Triage (vom französischen trier = auswählen, selektieren: Das Einteilen von Erkrankten zur Priorisierung von lebenserhaltenden Hilfen, etwa bei einem Mangel an Beatmungsgeräten auf den Intensivstationen). Sie wurde angefacht durch den Mangel an Beatmungsgeräten zu Beginn der Pandemie, zunächst in Bergamo und später in New York. Zum Glück ist eine vergleichbare Situation hierzulande nicht eingetreten. Bevor ein Mangel an medizinischen Behandlungsmöglichkeiten Triage-Entscheidungen erfordert, werden erst alle anderen Mittel ausgeschöpft: Neue Betten eingerichtet, planbare Behandlungen verschoben, Patienten in andere Krankenhäuser verlegt. Eine Triage ist in dieser Kette die letzte Option und wird zum Glück in Deutschland wohl auch nicht mehr erforderlich. Deshalb blieb die Auseinandersetzung theoretisch, wurde aber mit Heftigkeit geführt. Die Akademie für Ethik in der Medizin sowie die Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin gaben schon früh ihre Empfehlungen ab. Sie orientierten sich dabei nicht am "Nutzen" im Sinne der voraussichtlich höchsten Lebenserwartung der Betroffenen, sondern an der Rettung der größtmöglichen Anzahl von Personen, was nicht automatisch eine Priorisierung der jüngeren, gesünderen, nicht vorgeschädigten Personen bedeutet. (Eine Darstellung der Problematik gibt die Medizinethikerin Annette Dufner: www.bpb.de.) Die Empfehlungen stießen bei Teilen der Behindertenbewegung auf entschiedene Ablehnung. Deren Argumente sind nachzulesen unter www.abilitywatch.de.
Dass die Wachsamkeit notwendig ist, weil Triage-Entscheidungen im Zweifel auch reine Effektivitäts- bzw. Nutzen-Erwägungen zugrunde legen und sich gegen Menschen mit Behinderungen wenden können, zeigen Meldungen aus Großbritannien. Nach Berichten von Vatikan News und The Guardian sind dort die Ärzte während der zweiten Welle der Pandemie angewiesen worden, bei lernbehinderten Menschen, die an einer schweren Form der Covid-Erkrankung leiden, keine Herz-Lungen-Wiederbelebung durchzuführen (Quellen: www.vaticannews.va und www.theguardian.com).
Fazit: Die Krise ist ein Prüfstein dafür, ob die im Grundgesetz garantierte Gleichwertigkeit aller Menschen in der Praxis Bestand hat und es nicht zur Diskriminierung bestimmter Personengruppen kommt. Grundsätzlich lässt sich der Politik und dem staatlichen Handeln in Deutschland in den vergangenen zwölf Monaten bescheinigen, dass sie die besonders bedrohten alten und vorgeschädigten Personen geschützt haben. Dennoch müssen, wie Forderungen bestimmter Gruppen, Beispiele aus dem Ausland und mögliche Entscheidungsszenarien zeigen, die Betroffenen und ihre Unterstützer wachsam sein und eine mögliche Abkehr von diesem Grundsatz schon im Ansatz verhindern.
|