Der ehemals staatliche Werkstattträger Remploy hatte sich zu einem reinen Inklusionsdienstleister gewandelt und wurde anschließend privatisiert. Er gehört heute zum international tätigen amerikanischen Sozialkonzern MAXIMUS.
Das britische Werkstättensystem entwickelte sich allerdings nie zu der Größenordnung, die wir in Deutschland kennen. Maximal 20.000 Menschen hatten ihren Arbeitsplatz in einer Werkstatt. Schon 2007 stellte die damalige Labour-Regierung unter Tony Blair den Betrieb von 29 Werkstätten ein. Der Plan, die verbliebenen 53 Betriebe wirtschaftlich auf eigene Beine zu stellen, misslang. Der Subventionsbedarf lag auch drei Jahre später noch bei 25.000 Pfund pro Arbeitsplatz. Ein Bericht empfahl die Schließung der noch bestehenden „segregierten Arbeitsplätze", die dann zwischen 2012 und 2013 umgesetzt wurde. Auch ein erbitterter Widerstand von Beschäftigten, Angehörigen, Gewerkschaften und Mitbürgern der betroffenen Gemeinden änderte nichts daran.
Die zuständige Behörde, das Department for Work and Pensions, sagte Ende 2013, sie stände in Kontakt mit 1.300 von 1.800 seit März 2012 freigesetzten Personen. Von ihnen hätten 535 Arbeit gefunden, rund 400 befänden sich in Qualifizierungsmaßnahmen. Neuere Zahlen sind seither nicht verfügbar. Experten gehen aber davon aus, dass viele frühere Werkstattbeschäftigte heute arbeitslos sind. Der ehemals für die Remploy-Beschäftigten zuständige Gewerkschafter Jerry Nelson kommentierte dies gegenüber der Zeitung The Guardian mit den Worten: "Die Betroffenen gehören zu den Benachteiligtesten in unserer Gesellschaft und für sie ist dies eine Katastrophe. Für viele von ihnen war die Werkstatt ihr Leben und dieses Leben wurde zerstört."
Was ist mit der Selbstbestimmung der Werkstattbeschäftigten?
In Deutschland liegt die Zahl der Werkstattplätze mit aktuell ca. 340.000 um ein Vielfaches höher als in GB. Auch hier haben sich Werkstattkritiker wie Raul Krauthausen auf das Werkstättensystem eingeschossen, kritisieren es als „segregierend" und beklagen niedrigen Verdienst, fehlenden Arbeitsverträge und Arbeitnehmerrechte. Und sie zeigen sich überzeugt, dass die Beschäftigten mit der richtigen Unterstützung in den Arbeitsmarkt integrierbar sind. Ihre Forderung lautet wie in England: Mittel- bis langfristige Abschaffung der Werkstätten. Darin sind Sie sich einig mit dem UN-BRK-Fachausschuss, der im März 2015 seinen Bericht zur Staatenprüfung Deutschlands vorlegte und darin ebenfalls die schrittweise Abschaffung der Werkstätten mit konkreten Zeitplänen und Ausstiegsgarantie forderte.
Dass diese Maximalforderung einen vergleichbaren Effekt hätte wie 2013 in Großbritannien, ist vorhersehbar. Sie ist im Übrigen auch nicht gedeckt vom Artikel 27 der UN-BRK, der die freie Wahl des Arbeitsplatzes einfordert. Ein Großteil der Werkstattbeschäftigte will weiterhin in der Werkstatt arbeiten, der Ruf nach deren Abschaffung erscheint für sie existenziell bedrohlich. Die Verteidiger des Selbstbestimmungsrechts behinderter Menschen setzen sich dem Vorwurf aus, die Selbstbestimmung von Werkstattbeschäftigten selber mit Füßen treten.
Reformstau nach 50 Jahren Werkstattgesetzgebung
Also weiter so wie bisher? Die Antwort lautet nein. Nach fast 50 Jahren gehört die Werkstattgesetzgebung tatsächlich auf den Prüfstand. Das sagt auch die BAG WfbM und fordert die Politik auf, beispielsweise in der Entgeltfrage tätig zu werden. Die Anhebung der Werkstattentgelte auf das Niveau des Mindestlohns wäre ein wichtiger Schritt in der Veränderung der bisherigen Werkstattstruktur. Subventionierte Werkstattlöhne, bei denen bisherige Transferleistungen zum Lebensunterhalt „aus einer Hand" gezahlt werden, sind aber nur ein Thema. Arbeitnehmerrechte sind ein anderes, ebenso das stigmatisierende Zugangskriterium zur Werkstatt, die „volle Erwerbsminderung aufgrund der besonderen Schwere der Behinderung". Allerdings muss der Gesetzgeber mögliche Fehlanreize für geschützte Arbeitsplätze vermeiden. Eine zu breite Öffnung und eine offensichtliche Bevorteilung des Werkstattstatus gegenüber der Integration in den Arbeitsmarkt wäre kontraproduktiv.
Ein Weg, dies zu verhindern, könnte die zahlenmäßige Beschränkung von Werkstattplätzen sein. Allerdings ist das nur möglich, wenn der Vorrang inklusiver Wege der Beschäftigung ernst genommen und unterstützt wird und damit die Zahl der Vermittlungen deutlich steigt. Die Forderung der Werkstattkritiker lautet an an dieser Stelle: Aufbau eines flächendeckenden Netzes von Diensten, die Werkstattberechtigte bei ihrem Weg in den Arbeitsmarkt unterstützen und schon in den Schulen tätig werden. Das Ziel muss lauten, den Leistungsberechtigten echte Wahl- und Entscheidungsfreiheit zu ermöglichen. Wahl und Entscheidung setzen die Kenntnis unterschiedlicher Alternativen und entsprechende Erprobungsmöglichkeiten voraus und dazu bedarf es unabhängiger fachlicher Unterstützung.
Vorschlag: Enquete-Kommission WfbM
Auch wenn die Kritik an unserem System beruflicher Teilhabe zum Teil nachvollziehbar ist, die Forderung nach einer Abschaffung der Werkstätten bedeutet, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Änderungen sollten sowohl einen gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen als auch die bisherige Struktur der Werkstätten in eine zeitgemäße Form transformieren.
Um die Umwandlung des Systems voranzubringen, könnte die in jüngster Zeit mehrfach geäußerte Idee einer „Enquete-Kommission Werkstatt für behinderte Menschen" – analog zur Psychiatrie-Enquete in den 80er Jahren – ein geeigneter Weg sein. Enquete-Kommissionen sind vom Bundestag eingesetzte überfraktionelle Arbeitsgruppen, die komplexe Fragestellungen mit ihren rechtlichen, finanziellen, sozialen und ethischen Aspekten abwägen und einvernehmliche Lösungen vorbereiten. Dieser Vorschlag findet in den Parteien von der Linken bis zur FDP eine breite Unterstützung und könnte in der nächsten Legislaturperiode umgesetzt werden. Eine Abschaffung der Werkstätten wie Großbritannien wird wohl nicht das Ergebnis der Beratungen sein.
Vielleicht finden Sie in unserem Veranstaltungsprogramm den einen oder anderen Impuls zur eigenen Weiterbildung… wir freuen uns über Ihr Interesse!
Ihr Team von 53° NORD
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