Ihr Vorwurf an die Abgeordnete, die selbst behindert ist: "Sie agieren scheinbar aus dem Blickwinkel eines Menschen mit einer Körperbehinderung und Studium. Unser Eindruck ist: Sie respektieren nicht die Belange von Menschen mit Lernschwächen, geistigen oder psychischen Behinderungen. Sie respektieren nicht unsere Arbeitsleistung, weil scheinbar in ihren Augen nur der erste Arbeitsmarkt der richtige Weg ist. Das empfinden wir als diskriminierend!" Statt ihre Arbeitsplätze in Frage zu stellen, solle sich die Europaabgeordnete für Werkstattlöhne einsetzen, "die unserer Arbeitsleistung entspricht."
Trotz mehrmaliger Nachfrage erhielt der Werkstattrat auf sein Schreiben keine Antwort. Nachdem im Newsletter von 53° NORD Mitte August der Beitrag "Vorrang für Wahlfreiheit" erschien, wandte sich der Werkstattrat an uns, die Redaktion, schickten uns ihren Brief an die Abgeordnete zu und beklagten das Ausbleiben einer Antwort. Auf unsere Nachfrage im Brüsseler Büro von Frau Langensiepen kam dann sehr schnell eine Reaktion. Es antwortete die Pressesprecherin Joana Bosse. Viele derartige Schreiben aus Werkstätten hätten sie erreicht und sie seien nicht nachgekommen, diese alle zu beantworten. Deshalb planten sie für den Herbst eine zentrale Veranstaltung mit Werkstattvertretern. Der Austausch sei Frau Langensiepen sehr wichtig und sie sei auch regelmäßig in Werkstätten zu Besuch.
In der Sache blieb der Antwortbrief aber hart. Es sei die UN, die die schrittweise Abschaffung des deutschen Werkstättensystems fordere und die Frage sei nicht das "ob", sondern das "wie". Werkstätten seien Sonderwelten und hätten Monopolstatus. Das System müsse dringend reformiert, die Segregation überwunden werden. Dabei sei sicherzustellen, dass die besonderen sozialen Schutzmaßnahmen wie Erwerbsminderungsrente, Beschäftigungsschutz, Assistenz, et cetera, die derzeit an die Werkstätten gebunden seien, erhalten blieben. Es müsse ein Ausstiegsplan erarbeitet werden und daran sollten Menschen mit Behinderungen, Werkstätten, Angehörige, Beratungs- und Assistenzkräften, Unternehmen, Politiker*innen und Expert*innen mitarbeiten.
Den Werkstattrat der Ulrichswerkstätten in Aichach stellte diese Reaktion nicht zufrieden, zumal sie immer noch auf eine direkte Antwort auf ihr Schreiben warten. Ihre Sorge vor einem Verlust ihres Arbeitsplatzes bei der Abschaffung oder beim "Auslaufen" der Werkstätten bleibt bestehen: "Wir haben den Eindruck, dass es in dieser politischen Ebene eine vorgefertigte theoretische Meinung gibt. Unsere Bedürfnisse werden dabei nicht beachtet." Der Werkstattrat setzte dem Konzept der Umgestaltung des gesamten Systems beruflicher Teilhabe das Prinzip der eigenen Entscheidung und der Wahlfreiheit entgegen. "Wahlfreiheit muss es geben, nicht eine Bevormundung durch Politiker, die weit weg von der normalen Welt sind oder nur auf ihre eigenen Bedürfnisse achten."
Der Aichacher Werkstattrat engagiert sich mit dem Schreiben an die Europaabgeordnete nicht zum ersten Mal für seine Belange. Bei der Kommunalwahl 2020 hat er bereits die Kandidaten zu einer Gesprächsrunde in die Werkstatt eingeladen und auch zur Forderung von Frau Langensiepen und anderen Aktivisten nach Abschaffung der Werkstätten hat er Kontakt mit der regionalen Presse aufgenommen. Bleibt zu hoffen, dass die diskussionsfreudigen Werkstatträte auch zu der geplanten Veranstaltung von Frau Langensiepen eingeladen werden.
Hier zum Nachlesen das Interview mit Frau Langensiepen in der taz, der Brief des Werkstattrats
und die Reaktion aus dem Brüsseler Büro auf die Nachfrage von 53° NORD.
Wir sind gespannt auf eine weitere Diskussion zu diesem Thema.
Ihr Team von 53° NORD
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