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Alle an einen Tisch bringen!

Das Inklusionsnetzwerk Lüneburg schafft neue Chancen durch mehr Vernetzung

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 07. Januar 2025 |  Gudrun Heyder | Textbeitrag

  Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Kostenfreie Artikel, Gute Praxis - die Reportage

Das Inklusionsnetzwerk Lüneburg "Neue Wege ins Berufsleben" fördert Transparenz bei Übergängen und Chancen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Bis März 2026 mit Unterstützung von Aktion Mensch, vernetzt das Projekt AkteurInnen aus Arbeit und Behinderung in der Region. Peergroup- und Netzwerktreffen bringen Selbstorganisationen, KMU, Interessenverbände und Beratungsstellen zusammen, um attraktive Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung zu schaffen. Dabei arbeiten unter anderem die Rentenversicherung, Reha-Beratung, Förderschulen, die Koordinierungsstelle Frau und Wirtschaft, der Ausbildungsverbund Lüneburg und der Integrationsfachdienst mit.

Akquise von Unternehmen: Was braucht es?

Melanie Hasse, Projektleiterin des Inklusionsnetzwerks, erklärt: "Wir sind viele, denn das ist das A und O für eine gelingende berufliche Integration von unterschiedlichen Menschen: Alle AkteurInnen an einen Tisch zu bringen." Genauer gesagt, an unterschiedliche Thementische. "Wir definieren Handlungsfelder und bearbeiten sie dann in unterschiedlichen Arbeitsgemeinschaften. Zum Beispiel zum Thema ‘Qualifizierungen’", berichtet Melanie Hasse. "Als Ergebnis bieten wir diese für Unternehmen, für Beratungsstellen oder Menschen mit Behinderung an. Ein anderes Thema ist die Akquise von Unternehmen: Was braucht es, was gilt es zu beachten, wer sollte einbezogen werden?" Konkurrenz sei bei all diesen AkteurInnen im Netzwerk überraschenderweise kein Thema. "Alle sind bereit, an einem Strang zu ziehen. Ich hatte gedacht, es wird ein dickes Brett, das auf die Beine zu bringen, aber es läuft total gut."

Eine große Aufgabe besteht darin, mehr Firmen aus der Region zu gewinnen, inklusive Arbeitsmöglichkeiten bereitzustellen. Außerdem werden Ideen für Qualifizierungen geschmiedet, 25 sollen es schließlich sein – zu Themen wie Job-Carving oder gelungenes Onboarding für Mitarbeitende mit Behinderungen. Eine barrierefreie digitale Plattform dient dazu, die regionalen Beratungs- und Qualifizierungsangebote an einem Ort übersichtlich und transparent darzustellen. Inklusiv arbeitende Firmen stellen sich auf der Webseite vor, um die Kontaktaufnahme zu erleichtern; Betriebe finden Informationen über die Chancen, die ihnen inklusive Arbeitsplätze bieten. Menschen mit Behinderungen in der Region Lüneburg sollen mit Hilfe der Plattform leichter ins Berufsleben finden.

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Träger des Projekts: Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen

Der Träger des Projekts, der Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e.V. – VNB, ist eine Landeseinrichtung der niedersächsischen Erwachsenenbildung und bekommt öffentliche Gelder. Die Idee zum "Neue Wege"-Projekt entstand aus in der Bildungsberatungsstelle Lüneburg festgestellten Bedarfen. Zusammen mit der EUTB und dem Ausbildungsverbund in Lüneburg, vielen anderen Personen und Institutionen wurde daraufhin gebrainstormt: Was brauchen wir wirklich hier in der Region, um Menschen mit Behinderungen und ArbeitgeberInnen besser zu matchen? "Es zeigte sich, dass es schon viele Angebote zum Übergang von der Schule in den Beruf gibt", so Melanie Hasse. "Da viele davon projektbasiert sind, ist die Vernetzung und den Überblick zu behalten, aber schwierig, vor allem für die Menschen, die die Angebote brauchen." Aus dieser Erkenntnis heraus folgte dann der Netzwerkantrag an die Aktion Mensch. Das Neue Wege-Projekt ist ebenso für SchülerInnen ausgelegt als auch für Menschen, die in Werkstätten arbeiten, aber gerne etwas anderes machen wollen.  

Durch eine größere Transparenz will das Netzwerk den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung vereinfachen. Melanie Hasse nennt ein Beispiel dafür: "Aus den Schulen wurde der Wunsch ins Netzwerk getragen, eine Übersicht der Optionen aufzubereiten, die sich für SchülerInnen mit Behinderungen nach der Schule bieten, und dabei auch Möglichkeiten wie etwa das inklusive FÖJ mit aufzunehmen." Außerdem sei eine Liste mit Firmen gewünscht worden, die inklusive Praktikumsplätze anbieten. In einem Projekt hat die IHK Lüneburg Wolfsburg einen digitalen, kammerübergreifenden Schulpraktikumsfinder entwickelt. Dieser enthält nun die Suchparameter "barrierefrei" und "inklusiv", mit denen man sich die Firmen anzeigen lassen kann, die diese Kriterien erfüllen. "So werden keine Doppelstrukturen geschaffen, sondern bestehende Angebote angepasst", erläutert Hasse. "Neue Wege ins Berufsleben" will aufzeigen, was die Arbeitswelt alles zu bieten hat – damit nur Menschen in WfbM landen und bleiben, die das auch wirklich wollen. "Werkstattbashing" sei aber ausdrücklich nicht beabsichtigt. "Alle Möglichkeiten sollen gleichwertig nebeneinanderstehen", das ist Hasse wichtig. So sei etwa in Lüneburg die Lebenshilfe als größter Werkstattträger sehr innovativ; unter anderem habe sie eine inklusive Social Media Agentur gegründet. Melanie Hasse bekräftigt: "Ich glaube, dass das Thema Inklusion eben nicht funktioniert über ‘Der erste Arbeitsmarkt ist gut, der geschützte Arbeitsmarkt ist schlecht’. Das ist eine total giftige Diskussion. Inklusion funktioniert nur, wenn sich Netzwerke nachhaltig etablieren."

Basis für Erfolge: jede Menge Öffentlichkeitsarbeit

Die Region Lüneburg sei jedoch speziell: Anderswo, zum Beispiel im Rhein-Main-Kreis, gründen sich Unternehmensnetzwerke aus sich heraus, um beim Thema Inklusion weiterzukommen. "Hier sitzen Firmen vieles aus und denken, ‘Das wird schon’." Hauptaufgabe im Projekt ist Öffentlichkeitsarbeit ‘und noch mehr Öffentlichkeitsarbeit‘. "Wir befinden uns im Raum Lüneburg immer noch sehr am Anfang. Aber jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um Unternehmen zu akquirieren! Je mehr Öffentlichkeitsarbeit man macht, je mehr man zeigt, dass die Einstellung von Menschen mit Behinderung überhaupt kein Problem ist und dass es für viele Dinge ganz einfache Lösungen gibt, wenn man den Firmen die Angst nimmt und in einen Austausch kommt, hilft das extrem. Am besten mit Unterstützung von Firmen, die schon inklusiv tätig sind." Der alte Glaubenssatz von "Die Wirtschaft will ja gar nicht" stimme so nicht. "Aber die kommen nicht von allein, sondern die muss man abholen", betont Melanie Hasse.

Auch die verbreitete Meinung, Menschen mit Beeinträchtigung wollten beruflich nicht über den Tellerand schauen und hätten Angst vor Veränderungen, stimme nur bedingt. "Das ist ganz, ganz unterschiedlich. In unserem Netzwerk sind auch Menschen mit Behinderung. Sie berichten aus ihrer Perspektive über Erfahrungen, Wege etcetera. Es geht darum, dass wir nicht über irgendjemanden sprechen, sondern dass diese Menschen mit dabei sind, um auch andere Menschen mit Behinderung zu informieren." Der gelebte Peer-to-Peer-Ansatz nehme Menschen mit Handicap Befürchtungen und öffne ihnen Türen.

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Aktionstag "ArbeitInklusiv" - Best-Practice-Beispiele

Das Projekt besteht gut zwei Jahre nach Beginn im Wesentlichen weiterhin darin, die verschiedenen Zielgruppen anzusprechen, Informationen zu verbreiten, gegenseitige Hemmungen abzubauen, das Netzwerk auszubauen. Ein wichtiger Schritt für die gezielte Ansprache von ArbeitgeberInnen war der Aktionstag "ArbeitInklusiv" Ende August 2024, der mit dem Arbeitskreis Arbeit veranstaltet wurde: Etwa 350 Gäste kamen bei 32 Grad Hitze, um sich Best-Practice-Beispiele regionaler Firmen anzuhören und sich über Unterstützungsmöglichkeiten auf dem Weg in eine inklusive Arbeitswelt zu informieren. Die Agentur für Arbeit hatte allein mehrere Hundert Firmen eingeladen und viele kamen. Etwa 20 LeistungserbringerInnen stellten ihre Angebote vor und boten so den ArbeitgeberInnen und den ArbeitnehmerInnen mit Behinderungen die Möglichkeit, sich an an einem Ort über die unterschiedlichen Unterstützungsmöglichkeiten zu informieren.

Schwierigkeiten am Arbeitsplatz gemeinsam lösen

Oft können Schwierigkeiten gemeinsam gelöst werden, wie die Best-Practice-Beispiele vor Augen führten: So bekam der an MS erkrankte Schweißer Jens K., 46, in der Maschinenbaufirma Salmatec einen höhenverstellbaren Schweißtisch und einen Ruheraum, um die Mittagspause zur Regeneration nutzen zu können. Finanziell wird die Firma dabei vom Integrationsamt unterstützt. "Sie wollten diesen guten Mitarbeiter unbedingt halten," berichtet Hasse. Ein anderes Beispiel ist Karina M., 48, die im Jahr 2020 ihre Diagnose Autismus bekam. Seitdem ist ihr klar, warum sie manchmal anders reagiert als ihre KollegInnen. Hanna Kruse, Geschäftsführerin der Bäckerei Kruse, hat gemeinsam mit ihr Arbeitsabläufe verändert, um den Arbeitsplatz an ihre Bedürfnisse anzupassen. Unterstützt wurden sie dabei durch den Integrationsfachdienst. Von solchen praktischen Erfahrungen zu hören, motiviere Unternehmen, sich selbst an das Thema "Inklusion in meinem Betrieb" heranzuwagen, versichert Hasse. Im Inklusionsnetzwerk Lüneburg finden sie dazu bereits zahlreiche kompetente Ansprechpersonen.

Vorreiter in Sachen Inklusion ist das beim Aktionstag vertretene Unternehmen HeyHo Müsli: "Es beschäftigt in der Produktion ausschließlich Menschen mit mehrfachen Herausforderungen", erläutert Melanie Hasse. Timm Duffner, Geschäftsführer von HeyHo Müsli, sagt: "Ich stelle keine Menschen ein, um Müsli zu rösten, sondern ich röste Müsli, um Menschen einzustellen."

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Mehr Anlässe zum Austausch schaffen

Die Projektleiterin des Netzwerks findet, es müssten noch viel mehr Anlässe zum Austausch geschaffen werden: "In Lüneburg ist der einzige Ort, wo sich zu 50:50 Menschen mit und ohne Beeinträchtigung treffen, das inklusive Kulturzentrum Düne. Hier führen wir regelmäßig unsere ‘Fuckup Nights’ durch. 'Fuckup Nights' sind Events, durch die eine konstruktive Fehlerkultur entstehen soll. Ziel ist es, Momente oder Erfahrungen des eigenen Scheiterns vor Publikum zu erzählen, daraus zu lernen und die Erfahrungen so an andere weiterzugeben. Den Teilnehmenden soll Mut gemacht werden, offen mit Schwierigkeiten oder Hindernissen umzugehen, aktiv nach deren Ursachen zu suchen und sie als Chance für die eigene Entwicklung zu verstehen.

Sehr erhellend war für FörderschülerInnen auch ein Workshop des Netzwerks, in dem DozentInnen mit Behinderungen von ihren Vorstellungsgesprächen in Firmen berichteten. Thema war unter anderem: Mache ich gleich öffentlich, dass ich ein Handicap habe oder besser nicht? "So etwas ist wichtig und die Arbeitsagentur bietet dergleichen nicht an", sagt Melanie Hasse.

Auch der interne Fachtag "Schule – und was dann?" beschäftigte sich Anfang Oktober 2024 mit (besseren) Übergängen. NetzwerkakteurInnen widmeten den Fragen, wie mehr Firmen für inklusive Arbeitsplätze gewonnen werden können, welche Rolle die Berufsschulen spielen und wodurch die Lücken in der Angebotsberatung geschlossen werden können. Der Fokus lag auf der praktischen Umsetzung: Am Ende des Fachtages hatten alle TeilnehmerInnen notiert, was sie am nächsten Tag anstoßen wollten, um den Übergang zwischen Schule und Beruf zu verbessern.

Ziele bis zum Projektende im Frühjahr 2026

Die Projektleiterin ist zufrieden mit dem bisher im Raum Lüneburg Geleisteten und will bis 2026 noch folgende Ziele erreichen:

  • die Beratung für Übergänge "Schule – Beruf" weiter verbessern, vor allem für SchülerInnen und Eltern.
  • eine gute Übersicht über alle Angebote in der Region bieten. Dazu dienen die im Aufbau befindliche Webseite des Netzwerks und die Beratungsformate, etwa für Werkstattmitarbeitende, die auf dem ersten Arbeitsmarkt tätig werden wollen.
  • Qualifikationen im sozialen Bereich auf die Beine stellen: "Wir stellen fest, dass viele SchülerInnen gar nicht in die Gastronomie oder Landwirtschaft möchten, die Arbeitsplätze anbieten, sondern in den sozialen Bereich." Das Lüneburger Netzwerk ist in Kontakt mit den Hamburger Elbe-Werkstätten, die schon lange Qualifikationen zum/zur Kita-Helfer/in anbieten. "Wir überlegen, wie wir diese bei uns gestalten können. Sie wären auch für SchülerInnen ohne Werkstattberechtigung attraktiv. Wir gucken, wie so eine Qualifizierung aussehen und fianziert werden kann."

Melanie Hasse ist zuversichtlich, dass das von ihr verantwortete Modellprojekt auch nach dem Auslaufen nachhaltig wirken wird und die NetzwerkpartnerInnen sich auch weiterhin austauschen werden. Denn das Inklusionsnetzwerk Lüneburg bringt alle AkteurInnen rund um das Thema berufliche Teilhabe – und den gelingenden Einstieg – an einen Tisch, um Chancen aufzuzeigen und Hürden zu überwinden. Ein vorbildliches Projekt, dem langfristige Wirksamkeit und viele NachahmerInnen zu wünschen sind.

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Kontakt

Melanie Hasse
Verein Niedersächsischer Bildungsinitiativen e.V. - VNB
Landeseinrichtung der Erwachsenenbildung

Projektbüro Lüneburg
Friedenstraße 16
21335 Lüneburg
Tel: +49 4131 7740-106
E-Mail: melanie.hasse(ät)vnb.de
www.vnb.de
www.inklusionsnetzwerk.com

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