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Ausschreibungen von Berufsbildungsleistungen nach Vergaberecht?

Ein Kommentar von Michael Weber und Jochen Walter

Bild Ausschreibungen von Berufsbildungsleistungen nach Vergaberecht?
Dr. Michael Weber und Dr. Jochen Walter

 05. Dezember 2023 | Textbeitrag

  Berufliche Bildung, Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag

Die seit Jahren angekündigte Entgeltreform in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) hat eine bemerkenswerte Wendung erfahren. Sie hat sich zu einer Diskussion über die künftige Struktur der Institution Werkstatt entwickelt. Bekanntlich begab sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) im Jahr 2019 auf die Suche nach einem transparenten, nachhaltigen und zukunftsfähigen Entgeltsystem von Werkstätten.

Entgeltreform in Werkstätten als Anlass

Auslöser für diesen politischen Suchauftrag bildete eine der zahlreichen komplizierten Regelungen, die unser Sozialrecht auszeichnet. Die Erhöhung des Ausbildungsgeldes (§ 65 Abs. 5 SGB IX) zieht automatisch eine Erhöhung des Grundbetrages für Werkstattbeschäftigte nach sich (§ 221 Abs. 2 SGB IX). Für viele Werkstätten hätte die gesetzlich erzwungene Erhöhung der Lohnsumme ihrer Beschäftigten innerhalb eines Wirtschaftsjahres zu existenzgefährdenden finanziellen Problemen geführt, die mit den üblichen betriebswirtschaftlichen Mitteln im Rahmen des bestehenden Werkstattrechts nicht zu lösen waren.

Eine wissenschaftliche Studie sollte die passenden juristischen, betriebswirtschaftlichen und fachlich-rehabilitativen Rahmensetzungen für ein neues Entgeltsystem ermitteln. Zusätzlich sollte auch die Perspektive von Werkstattbeschäftigten auf dem ersten Arbeitsmarkt berücksichtigt werden. Ein auskömmliches Einkommen für alle Werkstattbeschäftigten wurde in Aussicht gestellt.

Die Studie liegt mittlerweile vor, und das zuständige Ministerium hat daraufhin eine Reihe von Handlungsfeldern identifiziert, innerhalb derer sich Reformprozesse von Werkstätten vollziehen sollen. In sogenannten strukturierten Dialogen mit relevanten politischen Akteuren im Feld der Eingliederungshilfe wird nun allerdings weniger über das künftige Entgeltsystem und dessen Ausgestaltung nach Höhe und Struktur, sondern mehr über Fragen der Zugangssteuerung in Werkstätten gesprochen. Eine „Ausgliederung“ oder „Auslagerung“ des Berufsbildungsbereichs aus den Werkstätten und im Weiteren die öffentliche Ausschreibung von Berufsbildungsleistungen ist eines der Handlungsfelder, die das BMAS als adäquate Antwort auf die Herausforderungen einer Werkstattreform interpretiert. So könne der angebliche Automatismus eines Übergangs von Berufsbildungsteilnehmern in den Arbeitsbereich der Werkstätten vermieden werden.

Offensichtlich ist man im BMAS der Meinung, dass die finanzielle Herausforderung einer zuschussbedürftigen Werkstattentlohnung für Menschen mit Behinderung am ehesten dadurch zu lösen sei, dass diese Zuschüsse – sollte deren Finanzierung aus Bundesmitteln unvermeidlich sein – mittels veränderter Zugangssteuerung an eine geringere Anzahl von Beschäftigten in den Werkstätten ausgekehrt werden müssten. Angesichts der Haushaltsprobleme des Bundes, die mit dem jüngsten Urteil des Bundesverfassungsgerichts offensichtlich geworden sind, könnte man sogar ein gewisses Verständnis für diese BMAS-Strategie aufbringen. Eine Entgeltreform in Werkstätten, die einen Zuschussbedarf in Milliardenhöhe aus dem Bundeshaushalt zur Folge hätte, dürfte derzeit politisch nur schwer durchsetzbar sein.

Rechtliche und ökonomische Schwächen von Ausschreibungsmodellen

Was allerdings irritiert, ist die Wahl der Mittel. Die Leistungen des Berufsbildungsbereichs sollen künftig öffentlich ausgeschrieben werden. Parallel zu diesem Vorhaben soll der Berufsbildungsbereich aus den Werkstätten ausgegliedert und in rechtlich eigenständige Organisationsformen überführt werden – eventuell aber doch „irgendwie“ von einem WfbM-Träger weiter betrieben werden können.

Die Ausgestaltung dieses Reformvorhabens, insbesondere die Beziehung zwischen Ausschreibungsverfahren und der Ausgliederungsoption, ist einigermaßen verwirrend. Eines dürfte klar sein: Das Verfahren der öffentlichen Ausschreibung kann nicht automatisch zu einer „Herauslösung“ des Berufsbildungsbereichs aus den Werkstätten führen. Denn dieser Automatismus wäre ja nur dadurch zu realisieren, dass den Werkstattträgern eine Teilnahme an den Ausschreibungsverfahren gesetzlich untersagt und der Paragraph 57 des SGB IX (Leistungen im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen) aus dem neunten Sozialgesetzbuch gestrichen würde. Einen solch verwegenen Eingriff in die grundgesetzlich garantierte Berufsausübungsfreiheit privater Leistungserbringer (Art. 12 GG) mag man sich nicht vorstellen.

Die Frage, die uns hier im Weiteren beschäftigen wird, betrifft den zweiten Teil des Reformvorhabens, also die grundsätzliche Eignung der Auftragsvergabe mittels förmlicher Vergabeverfahren für die Ausgestaltung zentraler Prozesse der Eingliederungshilfe im Dreiecksverhältnis zwischen dem leistungsberechtigten Menschen mit Behinderung, dem Leistungserbringer, z. B. einer Werkstatt für behinderte Menschen, und dem zuständigen Leistungs- und Kostenträger, im Falle des Berufsbildungsbereichs der Bundesagentur für Arbeit. Mit der möglichen Anwendung des Vergabemodells werden Grundsatzfragen einer Ordnungspolitik für soziale Märkte berührt, die den sozialen Sektor im Deutschland seit mehr als einem Vierteljahrhundert beschäftigen. Wer geglaubt hat, dass die damit verbundenen ökonomischen und juristischen Fragen längst geklärt seien, sieht sich angesichts des BMAS-Vorschlags eines Besseren belehrt.

Strukturelle Voraussetzungen für ein funktionierendes sozialrechtliches Dreiecksverhältnis

Zurzeit verhandeln die regionalen Einkaufszentren der Bundesagentur für Arbeit mit anerkannten Werkstätten für behinderte Menschen Preise für Maßnahmen der beruflichen Bildung, die in der Regel 27 Monate dauern. Mit dem Bundesteilhabegesetz hat der Bundesgesetzgeber dafür gesorgt, dass auch andere Leistungsanbieter (§ 60 SGB IX) Leistungen nach § 57 SGB IX erbringen können. Damit sind die strukturellen Voraussetzungen für ein funktionierendes sozialrechtliches Dreiecksverhältnis gegeben. Dieses Marktordnungsmodell ist aus rechtlichen und ökonomischen Gründen dem Modell der Ausschreibung sozialer Dienstleistungen nach Vergaberecht überlegen. Zum einen berücksichtigt es das Wunsch- und Wahlrecht von Leistungsberechtigten (§ 8 SGB IX), weil es ihnen – und nicht dem Kosten- und Leistungsträger – ermöglicht, Auswahlentscheidungen über die für sie geeigneten Leistungsanbieter zu treffen. Zweitens garantiert die Leistungserbringung im Rahmen eines funktionierenden sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses die grundgesetzlich garantierte Berufsfreiheit der Leistungsanbieter (Art. 12 GG). Ein Vergabeverfahren sieht hingegen die Auswahl einer oder weniger Anbieter vor. Leistungsanbieter, die grundsätzlich geeignet wären, kommen nicht zum Zuge und werden demzufolge in ihren Grundrechten beschnitten.

Natürlich funktioniert ein solches Marktordnungsmodell nach dem sozialrechtlichen Dreiecksverhältnis nur dann, wenn der Leistungsberechtigte eine faktische Auswahlmöglichkeit hat und dadurch sein Wunsch- und Wahlrecht auch tatsächlich ausüben kann. Es ist die Aufgabe des Leistungsträgers, für eine entsprechende Infrastruktur der Hilfe- und Förderleistungen zu sorgen, und zwar auf einer gesetzlichen Grundlage, die im Falle der beruflichen Bildung durch den Marktzutritt anderer Leistungsanbieter (§ 60 SGBIX) längst geschaffen wurde. Es ist die Aufgabe des Leistungsträgers, Vorgaben für eine qualitativ hinreichende und finanziell verantwortbare Leistungserbringung zu machen, geeignete Anbieter zuzulassen und sie in der Folge auch zu kontrollieren. Er muss darüber hinaus dafür Sorge tragen, dass die Leistungsberechtigten über die institutionelle Ausgestaltung des Hilfe- und Unterstützungssystems ausreichend informiert werden.

Der Leistungsanbieter trägt seinerseits ein betriebswirtschaftliches Belegungsrisiko. Er ist es auch, der entsprechende Verträge mit den Leistungsberechtigten abschließt, und zwar nur mit denen, die sich gezielt für ihn entschieden haben. Dieser Aspekt ist rechtlich bedeutsam, weil damit klar wird, dass das Vergaberecht in diesen Fällen nicht einschlägig ist. Die Bundesagentur für Arbeit ist zwar ein öffentlicher Auftraggeber. Auch der Auftragswert dürfte in der Regel die Schwellenwerte überschreiten, die die entsprechenden EU-Richtlinien vorgeben. Aber es liegen im Falle der beruflichen Bildung von Menschen mit Behinderung keine öffentlichen Aufträge vor, die eine Auswahlentscheidung für einen oder mehrere Anbieter unumgänglich machen. Auch ökonomisch macht die Ausschreibung keinen Sinn, weil der zuständige Leistungsträger im Zuge der Vorbereitung von Ausschreibungen planwirtschaftliche Kontingente für die Bildungsleistungen festlegen und dem Anbieter, der den Zuschlag enthält, entsprechende Abnahmegarantien geben müsste. Dieser ökonomisch ineffiziente Zwang entfällt in einem Wettbewerbsmodell, das mehrere unterschiedliche Anbieter zulässt, die ihrerseits die Belegungsrisiken übernehmen und nur die Aufträge mit dem Kostenträger abrechnen, die sie selbst mit den Leistungsberechtigten abgeschlossen haben.

Gegen Ausschreibungsverfahren wird häufig ins Feld geführt, dass sie zu einem ruinösen Preiswettbewerb unter den Anbietern und in der Folge zu einem Qualitätsverlust des gesamten Leistungsangebots führen würden. Dies mag in vielen Fällen stimmen und wird als Argument auch immer wieder von Sozialdezernenten deutscher Kommunen ins Feld geführt, besonders wenn es um den „Einkauf“ der Bundesagentur für Arbeit von Leistungen aus den Rechtskreisen des SGB II und III geht. Das Argument des Qualitätsverlustes aufgrund von Ausschreibungen im sozialen Bereich lässt sich im politischen Diskurs jedoch allzu leicht dadurch aushebeln, indem auf Mängel bei der praktischen Durchführung der Vergabeverfahren verwiesen wird, die durch eine explizite Berücksichtigung von Qualitätskriterien und Mindeststandards bei der Ausschreibung (z. B. den Nachweis der Tarifgebundenheit der Anbieter) gar nicht erst entstehen würden.

Entscheidend für eine Ablehnung von Vergabemodellen sind deshalb die Argumente einer fehlenden Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts der Leistungsberechtigten und des Verstoßes gegen die Berufsausübungsfreiheit von Anbietern, die Zuge von Ausschreibungsverfahren trotz grundsätzlicher Eignung keine Berücksichtigung gefunden haben.

Sind diese Argumente gegen Ausschreibungen neu? Keinesfalls. Man kann sie unter anderem in früheren Arbeiten des juristischen Gutachters der oben erwähnten Entgeltstudie nachlesen, dem Kasseler Sozialrechtsprofessor Felix Welti. Bezeichnenderweise enthalten die von ihm verantworteten juristischen Teile des Gutachtens zwar Hinweise auf eine stärkere Professionalisierung des Berufsbildungsbereichs und seine mögliche Auslagerung aus der WfbM, nicht aber auf das Mittel der öffentlichen Ausschreibung. Für das BMAS war das offensichtlich kein Hinderungsgrund, sich die Idee der Ausschreibung von Berufsbildungsleistungen zu eigen zu machen und sie als geeignetes Mittel im Hinblick auf eine veränderte Zugangssteuerung in Werkstätten zu präsentieren.

Zur Historie der Diskussion um Vergabemodelle

Man versteht solche Argumentationsformen wahrscheinlich besser, wenn man die mittlerweile mehr als 25-jährige Geschichte der Diskussion über geeignete Marktordnungsmodelle in der Sozialwirtschaft kennt und berücksichtigt. Diese Diskussion ist seit jeher von einem Subtext gekennzeichnet, der von angebotsinduzierter Nachfrage, fehlendem Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten und fehlendem Wettbewerb unter den Leistungsanbietern erzählt. Dieses Narrativ geht im Wesentlichen zurück auf die Kritik an „neokorporatistischen Strukturen“, die die Monopolkommission der Bundesregierung 1999 unter dem Titel „Wettbewerbliche Neuorientierung der freien Wohlfahrtspflege“ geäußert hat. Der Hamburger Volkswirtschaftsprofessor Dirk Meyer, der die Ausführungen der Monopolkommission stark beeinflusste, machte in zahlreichen Veröffentlichungen auf angebliche wettbewerbliche Missstände in der Sozialwirtschaft aufmerksam und sprach sich insbesondere für die Anwendung von Vergabemodellen aus.

Die Bundesagentur für Arbeit, die sich Ende der neunziger Jahre in der Phase einer strategischen und personellen Neuausrichtung befand, war einer der maßgeblichen sozialpolitischen Akteure, die die Argumente und Vorschläge der Monopolkommission ernst nahm und umsetzte. Es gab frühzeitig Gegenargumente auf Seiten der Freien Wohlfahrtspflege, die nicht zuletzt durch die Aktivitäten des damaligen Generalsekretärs des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, geprägt waren. Seine Darstellungen in diversen Publikationen und Lehrbüchern sowie das Rechtsgutachten, das der Deutsche Caritasverband bei dem damaligen Berliner Staatsrechtler Volker Neumann im Auftrag gab, liefern auch heute noch die entscheidenden Hinweise für eine ökonomisch effiziente und rechtlich abgesicherte Ausgestaltung von Wirtschafts- und Rechtsbeziehzungen im sozialrechtlichen Dreieck und für die Grenzen der Anwendbarkeit von Vergabemodellen.

Der Vorwurf einer angebotsinduzierten Nachfrage und einer vornehmlich an institutionellen Eigeninteressen orientierten Leistungserbringung war schon vor einem Vierteljahrhundert falsch. Daran hat sich bis heute nichts geändert, zumindest nicht im Bereich der Eingliederungshilfe. Es ist zwar grundsätzlich richtig, dass Kostenträger aufgrund des Risikos einer angebotsinduzierten Nachfrage ein besonderes Steuerungsinteresse entwickeln sollten. Die Problematik der angebotsinduzierten Nachfrage stellt sich aber nur dann, wenn Mitarbeitende des Leistungserbringers den Leistungsanspruch, die aus fachlicher Sicht notwendige Art der Leistung und deren Umfang feststellen und dem leistungsberechtigten Nutzer zur Entscheidung vorschlagen.

Im Gesundheitsbereich und damit im Rechtskreis des SGB V ist das aufgrund der fachlich starken Stellung von Ärzten der Fall – im System der Eingliederungshilfe aber nicht. Der Leistungs- und Kostenträger verfügt über ausreichende Kompetenzen, wenn es um die Bedarfsfeststellung, die Art und den Umfang der Leistungserbringung und die Kontrolle des Leistungsgeschehens geht. Im sozialrechtlichen Dreieck mit offenen Marktbeitritt und wettbewerblichen Prozessen zwischen den Leistungsanbietern können diese Kompetenzen zur vollen Entfaltung kommen. Allerdings muss der Leistungs- und Kostenträger auch dafür Sorge tragen, dass ein ausreichend großes Angebot an Leistungen vorhanden ist, damit das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten auch tatsächlich ausgeübt werden kann. Vergabemodelle blockieren hingegen dieses Recht von Menschen mit Behinderung.

Dr. Michael Weber (Geschäftsführer HPZ Krefeld, stellv. Vorstand BAG WfbM)
Dr. Jochen Walter (Vorstand Stiftung Pfennigparade, stellv. Vorstand BAG WfbM)

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