Die Vermittlungswerkstatt
Eine kleine Werkstatt vermittelt in großem Stil Beschäftigte auf den Arbeitsmarkt.
Thomas Wedel, Geschäftsführer und Integrationsbegleiter bei den Boxdorfer Werkstätten
Thomas Reiber will auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß fassen. Seit vier Jahren arbeitet er nun bereits in der Boxdorfer Werkstatt, seit Kurzem lässt er sich gezielt auf eine Vermittlung vorbereiten. Gerade absolviert er ein Telefonpraktikum im eigenen Haus. Angeleitet wird er dabei von Thomas Schwarz, dem „Frontmann“ unter den Beschäftigten. Das ist wörtlich zu verstehen: Er ist der Empfangsmitarbeiter, Verwaltungsassistent und Telefonist der Werkstatt. Sein Praktikant Thomas Reiber ist einer von sechs Teilnehmern in der aktuellen Qualifizierungsgruppe für den Arbeitsmarkt. „Ich habe einige Zeit gebraucht, um mich zu stabilisieren“, berichtet er. „Jetzt möchte ich gerne den Sprung nach draußen wagen.“ Mit der Boxdorfer Werkstatt ist er dabei an der richtigen Adresse: Die Chancen auf eine Festvermittlung stehen hier gut.
Ein Integrationsbegleiter als Mitglied der Geschäftsleitung
Die Boxdorfer Werkstatt ist mit gerade einmal 165 Werkstattplätzen und 30 Plätzen im Förderstättenbereich eine der kleinen der Nürnberger Region. Sie ist spezialisiert auf Angebote für Menschen mit Körperbehinderungen. Gegründet wurde sie im Jahr 1974, seit Beginn der 90er Jahre kümmert sie sich gezielt um Vermittlungen auf den Arbeitsmarkt. Übergänge sind Sache von Thomas Wedel, der 1996 als Integrationsberater eingestellt wurde. Welchen Stellenwert das Thema Vermittlung einnimmt, lässt sich daran ablesen, dass Thomas Wedel auch stellvertretender Werkstattleiter und Mitglied der Leitungsebene ist. Sein Büro gehört zu den zentralsten im ganzen Haus, angesiedelt zwischen Geschäftsführung und Produktionsleitung. Geschäftsführer Jürgen Emisch: „Das darf man programmatisch sehen. Vermittlung gehört zu unseren Kernaufgaben und unser Vermittler sitzt mitten drin und nicht nur irgendwo dabei.“ In den 17 Jahren Werkstatttätigkeit hat Thomas Wedel sich den Ruf eines „Botschafters des Vermittlungsgedankens“ erworben und er ist damit auch ein Botschafter seiner eigenen Werkstatt.
Bei allen Problemen rund um die Vermittlung gilt er als Experte. „Im Schnitt erhalte ich einmal pro Tag einen Anruf“, sagt er. „Oft sind es Einzelfragen, etwa nach den zu erwartenden Rentenleistungen. Manchmal übernehme ich aber auch eine feste Beratung.“ Thomas Wedel weiß, dass Alternativen zur Werkstatt nur realisierbar sind, wenn sie gründlich vorbereitet werden: „Für den Schritt nach draußen braucht es Informationen, die Chance zur Erprobung und viel Ermutigung. Der Interessent muss wissen, welche Möglichkeiten er hat und muss die Folgen abschätzen können.“ Der Weg nach draußen sei aber keine Einbahnstraße: „Unser Prinzip heißt Durchlässigkeit und Vielfalt. Wir bieten Wahlmöglichkeiten und unterstützen die Menschen bei ihrer eigenen Entscheidungsfindung.“
Claudia Dörfler absolviert ein Praktikum in der Werbeagentur
Thomas Schwarz leitet Thomas Reiber am Telefon an
Festvermittlung hat Vorrang
Anders als in anderen Werkstätten setzen die Boxdorfer beim Thema Integration nicht auf Außenarbeitsplätze, sondern bemühen sich immer um eine Festvermittlung. Thomas Wedel: „Nur wenn das nicht geht, kommen auch andere Varianten in Betracht.“ Über 40 Vermittlungen in sozialversicherungspflichtige Tätigkeiten hat er in 17 Jahren unterstützt. Beeindruckend ist auch die Nachhaltigkeit dieser Arbeitsplätze: „Die Verbleibquote liegt bei 84 Prozent. Berücksichtigt man Insolvenzen und krankheitsbedingte Abbrüche, liegt sie sogar bei fast 100 Prozent.“ Auf die Bewerberliste kommt nur der, der eine schriftliche Bewerbung einreicht. Eine solche Bewerbung kann aus einem Satz bestehen, sie kann aber auch sprachlich ausgefeilt sein, je nach Fähigkeit des Interessenten. Für Thomas Wedel ist sie der Prüfstein für die Ernsthaftigkeit der Bewerbung. Vor dem ersten Praktikum liegt die eingangs erwähnte Qualifizierungsphase. Thomas Wedel beschreibt sie so: „Wir schulen vor allem Sozialkompetenz, Selbständigkeit und Kommunikationsfähigkeit, aber auch büropraktische Kenntnisse und Fähigkeiten. Dazu verwenden wir unter anderem Schulungsmaterialien der BAG UB und nutzen die Übungsfelder im Haus.“ Die Schulung der Sozialen Kompetenzen liegt in der Verantwortung der Werkstattpsychologin Kristina Stein. Die Gruppenstärke liegt bei durchschnittlich sechs Teilnehmern. Schulungen erstrecken sich in der Regel über ein Jahr. Thomas Wedel: „Bis jemand tatsächlich vermittelt wird, kann es aber viel länger dauern. Unsere längste Vermittlungszeit betrug zwölf Jahre. Da hat jemand immer wieder Praktika absolviert und zu guter Letzt ist die Vermittlung dann auch gelungen.“
Erfolgreiche und wenig erfolgreiche Förderprogramme
Vermittlung ist in Bayern nicht nur Sache der einzelnen Werkstatt. Es gab immer wieder landesweite oder regionale Programme, die den Zugang zum Arbeitsmarkt unterstützen sollten. Am Programm QUBI (Qualifizierung, Unterstützung, Begleitung, Integration) waren über 50 bayerische Werkstätten beteiligt. Leider waren die Erfolge nicht nachhaltig. Thomas Wedel sieht den Fehler darin, dass die Werkstätten für diese Aufgabe kein festes Personal hatten. „Die Arbeitsverträge der Projektmitarbeiter waren meist befristet, es gab keinen Know-how-Transfer.“ Dem gleichen Fehler unterliegen auch die Neuausschreibungen für die Integrationsfachdienste (IFD). Thomas Wedel: „Bis ein IFD-Mitarbeiter wirklich erfolgreich arbeiten kann, vergehen bis zu vier Jahre. Wenn dann die Vergabe erneut ausgeschrieben wird und ein anderer Dienst den Zuschlag erhält, wird vorhandenes Wissen vernichtet.“ Im Anschluss an das QUBI-Projekt machte der Bezirk Mittelfranken das Thema Vermittlung aus Werkstätten zu seiner Sache und legte mit den Boxdorfern ein sechsjähriges Projekt auf, aus dem sich eine Stelle mit den nötigen Sachmitteln finanzieren ließ. Es trug den Titel arbeit plus. Thomas Wedel: „Geplant waren acht Vermittlungen, am Ende waren es zehn. Bisher liegt das Einsparvolumen für den Bezirk bei über 3 Mio. Euro nicht mehr angefallene Eingliederungshilfe.“ Ab 2012 gibt es ein neues Programm, das leider weniger flexibel ist. Thomas Wedel moniert: „Es gibt keine Zielgröße, aber eine Finanzierungszeit von maximal 18 Monaten. Rechnerisch ergeben zehn Teilnehmer eine Sozialpädagogen- Stelle. Dieser Schlüssel ist zu hoch angesetzt und die zeitliche Befristung zu starr.“
Patricia Dasch arbeitet im Reinraumbereich
Ümüt Yozgat fand Arbeit bei einem Elektrohersteller
Wer eignet sich zur Vermittlung?
Schädigt sich die Werkstatt mit der Vermittlung in den Arbeitsmarkt selbst, weil sie ihre Leistungsträger gehen lässt? Thomas Wedels Antwort auf diese vielgestellte Frage lautet nein. „Eher im Gegenteil“, ist seine Erfahrung. „Seit wir gezielt Vermittlungen vornehmen, sind wir flexibler geworden. Jeder muss in der Lage sein, andere zu ersetzen und wird auf den Eventualfall vorbereitet. Es sind auch nicht unbedingt die sogenannten ‚Leistungsträger‘ in den Werkstätten, für die die Vermittlung gelingt. Hier spielen auch der Status in der Werkstatt oder soziale Beziehungen zu den Kollegen eine wichtige Rolle für die Entscheidung zu gehen oder zu bleiben.“ Thomas Wedel ist zudem überzeugt: „Die Schwere der Behinderung ist nicht das entscheidende Kriterium für den Vermittlungserfolg. Ob sich jemand eignet, lässt sich vorab schwer einschätzen oder durch Testungen herausfinden. Ein wichtiger Faktor ist die Motivation. Weil es so viele unerwartete und verblüffende Erfolge gegeben hat, bin ich mittlerweile zu dem Schluss gekommen: Ich probiere es mit jedem, der sich bei mir ernsthaft bewirbt.“ In Boxdorf sind auch die Gruppenleiter von der Vermittlungsidee überzeugt. Thomas Wedel fährt mit ihnen gemeinsam zu den Praktikumsstellen, auf der Weihnachtsfeier zeigt er Bilder von gelungenen Übergängen und Praktikanten. Viele Vermittelte besuchen ihre alte Werkstatt und berichten von ihren Erfahrungen. Wenn es jemand auf den Arbeitsmarkt schafft, ist das ein gemeinsamer Erfolg, nicht nur die Angelegenheit des Integrationsbegleiters.
Vermittlung als Neustart ins Leben
Der Wechsel in den Arbeitsmarkt ist nicht nur ein Wechsel des Arbeitgebers, die Veränderungen durchziehen alle Lebensbereiche. Thomas Wedel: „Oft ist damit beispielsweise ein Auszug von zu Hause oder aus der Wohngruppe verbunden. Wir bieten schon vor der Praktikumsphase die Methode der Persönlichen Zukunftsplanung an. Allein die Chance auf eine Vermittlung wirkt wie ein Startsignal: Die Teilnehmer produzieren völlig neue Ideen, betrachten sich als andere Menschen.“ Solche Veränderungen haben auch einen veränderten Unterstützungsbedarf zur Folge, etwa hinsichtlich der Pflege. Thomas Wedel: „Damit es nicht hakt, pflegen wir eine gute Kommunikation mit dem Wohnbereich und den Pflegediensten.“
Senay Ali hat ihren Arbeitsplatz in der Realschule Heilsbronn
Wenn schon nicht Produktions-, dann Reha-Weltmeister
Die Boxdorfer Vermittlungs- Bemühungen haben sicher auch etwas mit der Nürnberger Werkstattlandschaft zu tun. Sie ist geprägt von einer großen Werkstattdichte und zwingt zur Profilierung. Geschäftsführer Jürgen Emisch formuliert es so: „Mit unserem speziellen Personenkreis können wir keine Riesenüberschüsse erzielen. Wir werden nie Produktionsweltmeister, aber vielleicht Reha-Weltmeister.“ In der Werkstattlandschaft haben sich die Boxdorfer mit dieser Ausrichtung ein wenig den Ruf von „Exoten“ erworben. Ihre unbestreitbaren Vermittlungserfolge führen andere Werkstätten gerne auf den speziellen Boxdorfer Personenkreis zurück. Thomas Wedel ist anderer Meinung: „Menschen, die wegen ihrer Körperbehinderung eine Werkstattberechtigung bekommen, sind in der Regel stark eingeschränkt oder pflegebedürftig. Ihre Vermittlung ist eher schwieriger als die von Menschen mit geistiger oder psychischer Behinderung. “ Die Boxdorfer sind sich aber im Klaren: Jede Einrichtung muss den eigenen Weg finden. Jeder Personenkreis hat seine Besonderheiten und in der Stadt funktioniert Vermittlung anderes als auf dem Land.
Gut gerüstet für die Zukunft
Auf jeden Fall ist der Boxdorfer Weg zukunftsträchtig. Das zeigt sich schon heute auf anderem Gebiet: Der Trägerverein, Verein für Menschen mit Körperbehinderung Nürnberg e.V. ist ein gefragter Anbieter für die Begleitung behinderter Schüler in Regelschulen. Er betreibt keine eigene Förderschule und gilt deshalb bei den Eltern als unabhängig. Die langjährige Erfahrung der Werkstatt in Sachen Integration gewinnt durch die Inklusionsdiskussion zusätzlich an Gewicht. Für die zu erwartende Öffnung des Rehabilitationsmarktes für andere Anbieter sehen sich die Verantwortlichen jedenfalls gut gerüstet. Sie sind sicher: Die Ansprüche auf integrative bzw. inklusive Lebensformen werden zunehmen und damit auch die Nachfrage nach integrierten Arbeitsplätzen. Jürgen Emisch sieht aber die Gefahr, dass die Kostenträger die Entwicklung nutzen, um auf Dauer die Preise zu drücken. Den Trend zu immer kleinteiligeren Leistungseinheiten betrachtet er mit Sorge: „Bei der Reduzierung von Lebensumfeld in Rechengrößen und Durchschnittswerte besteht die Gefahr, dass gerade schwerstbehinderte Menschen nicht mehr im notwendigen Umfang zu ihrem Recht kommen.“
Thomas Schwarz, der „Frontmann“ der Boxdorfer Werkstatt, hat seinen Weg gefunden. „Ich bin froh“, sagt er, „dass ich hier arbeiten kann. Für mich war der freie Arbeitsmarkt nicht das Richtige. Diese spezielle Mischung von Aufgaben – die Pforte, der Telefondienst und die Anleitung von Praktikanten – ist genau das, was ich mir wünsche.“ Sein aktueller Praktikant Thomas Reiber dagegen sieht seine Zukunft in einem Betrieb der freien Wirtschaft. „Für mich steht demnächst das Praktikum auf dem Arbeitsmarkt an“, sagt er. „Ich würde gerne ausprobieren, ob ich als Körperbehinderter in einer Schreinerei arbeiten kann. Aber mittlerweile finde ich auch den Bürobereich interessant.“
Ein Beitrag aus dem KLARER KURS 2/2013
"Einblick in die Praxis"
Was der richtige Arbeitsplatz ist, entscheidet jeder selbst."
6. September | 9:00 bis 12:00 Uhr online
KONTAKT
Thomas Wedel
BZB – Behindertenzentrum Boxdorf gGmbH
Boxdorfer Werkstatt
Am Spund 4, 90427 Nürnberg
wedel@boxdorfer-werkstatt.de
www.boxdorfer-werkstatt.de