Die Vision hinter der UN-BRK
So können Werkstätten inklusiver werden
Schließen Sie einmal die Augen und stellen Sie sich vor: Ein Kind im Rollstuhl besucht den kommunalen Kindergarten, ein blindes Kind die örtliche Grundschule, ein Kind mit Downsyndrom die Sekundarstufe. Im Supermarkt hilft uns die junge Frau mit einer geistigen Behinderung, den Senf zu finden. In der Buchhandlung sucht ein Mann mit einer spastischen Lähmung an seinem Spezialcomputer nach unserem Fachbuch. In der Nachbarwohnung lebt ein Pärchen, das von der ambulanten Wohnbetreuung begleitet wird. Im Straßencafé mischt sich der fröhliche Dirk mit dem schiefen Gesicht unter die Gäste. Alle mögen ihn, alle achten darauf, dass ihm nichts geschieht. Wo solche Szenen Wirklichkeit werden, hat das Thema Behinderung seine Fremdheit verloren. Jeder kennt und schätzt die Menschen, die ihm da begegnen.
Es ist diese Vision, die hinter der UN-Behindertenrechtskonvention steckt: Behinderte Menschen leben mit unserer Unterstützung mitten in der Gesellschaft. Erste Schritte auf dem Weg sind getan: Im Kindergarten wird Integration zum Normalfall, Verkehrsmittel und öffentliche Räume sind zunehmend barrierefrei. Auch die Arbeitswelt öffnet sich: Firmenchefs entdecken die Verlässlichkeit behinderter Mitarbeiter und begreifen, dass Vielfalt ihr Unternehmen bereichert.
Vieles bleibt aber noch zu tun, und das gilt auch für die Werkstätten. Betriebsintegrierte Arbeitsgruppen und Einzelarbeitsplätze sind eher die Ausnahme, manchmal sucht man sie vergeblich. Das Budget für Arbeit, eigentlich ein Königsweg in den Betrieb, wird nur zögerlich angeboten. In der Beratung zählen vermeintliche Risiken und rechnerische Nachteile oft mehr als der Gewinn an Selbstwertgefühl und Anerkennung.
Das größte Hindernis für eine inklusivere Ausrichtung der Werkstätten liegt in ihren gesetzlichen Grundlagen und in ihrer Historie. Vor einem halben Jahrhundert konnte sich niemand das alltägliche Zusammenleben von Behinderten und Nichtbehinderten vorstellen. Mit dem Recht auf die Werkstatt sorgte die Gesellschaft für ihre "Sorgenkinder", allerdings um den Preis der Ausgrenzung und Stigmatisierung. Die Werkstätten wurden im Industriegebiet angesiedelt, Behindertenbusse holen die Beschäftigten früh von zu Hause ab und bringen sie abends wieder zurück. Kontaktmöglichkeiten zur Bevölkerung gibt es kaum.Geht es auch anders
Geht es auch anders?
Wie können Werkstätten inklusiver werden? Es gibt mehr Ansätze, als viele glauben:
- Werkstätten können in der Berufsbildung der beruflichen Orientierung außerhalb der Werkstatträume Priorität einräumen − Inklusion first.
- Parallel dazu können sie ihre betriebsintegrierten Arbeitsplätze ausbauen, Beschäftigte in Kindergärten, Altenheime und Cafés vermitteln, das Budget für Arbeit nutzen.
- Sie können mehr Arbeitsgruppen in Betriebe verlagern
- Sie können mehr Dienstleistungen in den Gemeinden anbieten: Gastronomie und Hotels, Reinigungsdienste und Wäschereien, Grünanlagenpflege, Aktenvernichtung und Zeltverleih
- Sie können ihren Beschäftigten ungewöhnliche Berufsrollen ermöglichen: Als Schauspieler*in, Künstler*in oder Sänger*in, als Referenten und Experten in eigener Sache
- Sie können Menschen mit Behinderungen darin unterstützen, sich stärker in der Gemeinde zu verankern: im Fußballverein, beim Karneval, in der freiwilligen Feuerwehr, in Chören, in der Kirchengemeinde.
- Sie können sich stärker am Austausch, an der Willensbildung und an der Gremienarbeit im Gemeinwesen beteiligen, dafür sorgen, dass die Perspektive behinderter Menschen mitgedacht wird, und sie können eigene Lösungen für anstehende Probleme anbieten (Stichwort "Quartiersmanagement")
- Sie können ihre Räume für die Gemeinde öffnen − am Abend, am Wochenende, für die VHS, für Initiativen − und diese Kontakte für ihre Beschäftigten nutzen.
- Sie können über eine verbesserte Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit ihre inklusiven Leistungen in der Öffentlichkeit sichtbar machen
FAZIT
Ein weiterer Schritt zu mehr Inklusion und Normalität erfordert ein Umdenken beim Gesetzgeber und bei den Leistungsträgern: Deren Vorgaben − etwa die der Arbeitsagentur in ihrer HEGA für andere Leistungsanbieter − müssen sich von der Werkstatt als Gebäude lösen und sie als eine ortsungebundene Unterstützungsleistung definieren. Die gesetzlichen Grundlagen einschließlich der Werkstättenverordnung müssen überarbeitet werden, dabei müssen die Themen Mindestlohn und Arbeitnehmerrechte erneut auf die Tagesordnung. Gefragt sind zudem inklusive Lösungen für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf.
Schon heute haben die Werkstätten viele Möglichkeiten, sich stärker inklusiv auszurichten. Für den großen Durchbruch im Sinne des UN-BRK bedarf es allerdings weiterer gesetzlicher Vorgaben. Wenn wir eine inklusivere Gesellschaft mitgestalten wollen, müssen wir eingefahrene Wege verlassen. Zehn Jahre nach der Ratifizierung der Konvention ist die Zeit dafür reif. Die Eingangsvision zeigt: Die Mühe lohnt.
Der Kommentar ist der Ausgabe KLARER KURS 1/2018 entnommen.
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