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Eugenik und Euthanasie – für immer gebannt?

Buchbesprechung zu "Eugenische Phantasmen, eine deutsche Geschichte" von Dagmar Herzog

Bild Eugenik und Euthanasie – für immer gebannt?

 12. November 2024 |  Dieter Basener | Textbeitrag

Die brutalen Morde an Menschen mit Behinderung, die die Nationalsozialisten zwischen 1938 und 1945 begingen und denen fast 300.000 Personen zum Opfer fielen, sind nicht nur Hitlers Schergen zuzuschreiben. Ihre gedanklichen Wurzeln hatte die Euthanasie schon im Anfang des Jahrhunderts. Die zugrunde liegende Haltung gegenüber Menschen mit geistigen und psychischen Beeinträchtigungen endete auch nicht mit dem Krieg, sondern setzte sich bis in die jüngste Vergangenheit fort. Das ist eine der zentralen Aussagen des gerade erschienenen Buchs "Eugenische Phantasmen, eine deutsche Geschichte" der amerikanischen Professorin Dagmar Herzog.

Das Werk beschreibt die Geschichte der Behinderung in Deutschland als Teil unserer Sozialgeschichte mit ihren Verbindungen zu politischen und wirtschaftlichen Faktoren. Dabei geht Dagmar Herzog auch den Fragen nach, wie Sichtweisen und Einstellungen entstehen, wie sie sich umlenken und verändern lassen, wie zuvor Undenkbares denkbar werden kann und auch, wie formbar der "gesunde Menschenverstand" ist. Für unsere aktuelle Situation bezogen heißt das: Kann sich die mühsam erkämpfte öffentliche Grundüberzeugung vom gleichen Wert menschlichen Lebens wieder ändern? Und was würde das für unsere Bemühungen um Integration und Inklusion bedeuten?

Als entscheidenden Wegbereiter für die späteren Morde benennt Herzog die Schrift des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche aus dem Jahr 1920: "Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens, ihr Maß und ihre Form", welches die Vorlage für das Euthanasie-Programm der Nazis lieferte. Erste Eugenik-Ideen, Überlegungen zur "Verbesserung der Volksgesundheit", wurden schon seit der Jahrhundertwende geäußert. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Diskussion um Euthanasie durch die Niederlage Deutschlands beflügelt, für viele eine nationale Kränkung und Demütigung, Gefühle, die sich in der Abwertung Schwächerer ein Ventil suchten. Zudem führte sie zu einer massiven Einschränkung des Wohlstands, was Kosten-Nutzenüberlegungen Vorschub leistete.

Der von Binding und Hoche verwendete Begriff des "unwerten Lebens" und ihr unverhohlener Aufruf zu seiner "Vernichtung" wirkte als Initialzündung und brachte den ethisch-moralischen Damm endgültig zum Einsturz. In der immer aggressiver geführten Euthanasie-Diskussion gerieten insbesondere die Anstalten unter den Druck der Vertreter einer "Rassenhygiene". In die Defensive gedrängt, übernahmen einzelne Anstaltsleitungen zunächst Sterilisationsforderungen, nach der Machtübernahme der Nazis leisteten sie auch der Ermordung ganzer Anstaltsabteilungen Vorschub.

Dagmar Herzog demaskiert die Grundlage der Eugenik, der vorherrschenden Vorstellung von der Beeinflussbarkeit der "Volksgesundheit", oder, in der Terminologie der Nazis, der Züchtung einer "Herrenrasse", als reines Wunschdenken. Die darin enthaltene Sicht, Behinderung sei überwiegend vererbt, sei ein "Phantasma", ein Trugbild. Eine Genanomalie sei beispielsweise nicht erblich, sondern könne jedes Kind betreffen. Die häufigsten Behinderungsursachen seien Schädigungen in der Schwangerschaft und Geburt, Mangelernährung oder schlechte ärztliche Versorgung. Diese Faktoren seien häufig an Armut geknüpft und ließen sich in der unteren sozialen Schicht verorten. Deshalb dokumentierten die Vererbungsstudien über angeblich familiär bedingte Behinderung in Wirklichkeit Armutsgeschichten, die sich über Generationen reproduzierten. In christlicher Lesart galt Behinderung zudem häufig als "Strafe für ein sündiges Leben", als Folge und Beweis für sexuelle Ausschweifungen. Auch sie wurden vorwiegend den unteren sozialen Schichten unterstellt.

Anstalten waren also nicht vor Eugenik- und Euthanasie-Gedanken gefeit. Dies betraf, wie Dagmar Herzog nachweist, in stärkerem Maße evangelische als katholische Einrichtungen. Sie boten Hilfe, Schutz und Pflege, entfremdeten die Betreuten aber auch ihrem angestammten Umfeld und erzeugten, ebenso wie das sich parallel entwickelnde Hilfsschulsystem, ungewollte Stigmatisierungseffekte. Beide lieferten mit Klassifizierungen der Bildungs- bzw. Arbeitsfähigkeit Bewertungsskalen, die die Nazis für ihre Euthanasie nutzen konnte.

Mit der Machtübernahme der Nazis wurde aus Gedanken Realität. Ab 1933 in massenweisen Sterilisationen, ab 1939 in den T4-Morden mittels mobiler Gaskammern, als Probelauf für den späteren Holocaust. Nach deren Stopp gingen die Morde als "wilde" oder "regionale Euthanasie" per Medikamentengabe oder Verhungernlassen noch bis zum Kriegsende weiter. Ihr fielen, was kaum bekannt ist, noch einmal gleichviele Menschen zum Opfer.

In der Nachkriegszeit wirkte die in der Bevölkerung verankerte Vorstellung von "lebensunwertem Leben" noch lange nach. Die Kirchen leugneten eine Mitschuld an den Sterilisationen und Euthanasiemorden und verbreiteten das Narrativ, sie seien auch in dieser Zeit die Verteidiger der Schwachen gewesen. Erst in den 70er und 80er Jahre wurden die wahren Zusammenhänge von Aktivisten wie Ernst Klee aufgearbeitet. Diese Erkenntnisse, das Aufdecken der teils katastrophalen Betreuungspraxis in den fortbestehenden Anstalten und der Kampf von Aktivisten aus der Selbsthilfebewegung um Gesellschaftliche Anerkennung und Teilhabe führten allmählich zu einem Umdenken. Dagmar Herzog widmet sich ausführlich der Nachkriegssituation sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR und zeigt, wie in beiden Systemen Einzelne gegen den Zeitgeist ankämpften, allmählich die öffentliche Meinung beeinflussten und den heute selbstverständlich erscheinenden Inklusions-, Selbstbestimmungs- und Teilhabegedanken durchsetzten.

In einer wahren Sisyphusarbeit hat Dagmar Herzog Tausende von Dokumenten vom Beginn der Anstaltsbewegung bis zum Jahr 2023 ausgewertet. Sie erweist sich dabei als ungeheuer fleißige Sammlerin von Zeitdokumenten, wertet sie feinfühlig aus, spürt die dahinterstehende Haltung aus der Wortwahl und dem Tonfall des Geschriebenen heraus und ordnete die Zitate in einen größeren Zusammenhang ein. Das konnte ihr nur gelingen auf der Basis einer klaren Haltung, die das ganze Buch durchzieht: Das Eintreten für die Gleichwertigkeit und die Würde allen menschlichen Lebens, der Kampf gegen ein Kosten-Nutzen-Denken und jede Abwertung von Minderheiten. Ihr Buch demaskiert den verführerischen Reiz der Eugenik, die scheinbare Überlegenheit vermittelt, Unzufriedenheit und Wut zu kanalisieren hilft und sie gegen die Wehrlosesten in der Gesellschaft richtet und stellt die Eugenik in einen Zusammenhang mit dem Hass auf andere Minderheiten, auf Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, heute auf Migranten oder Muslime. Ihre Erkenntnis: Das Wirkprinzip ist immer dasselbe, die Gruppen sind austauschbar.

Auf die Frage, ob die positive Entwicklung der letzten 30-40 Jahre unumkehrbar ist, gibt die Autorin keine eindeutige Antwort. Ungeniert knüpfen heute Teile der AfD um Björn Höcke verbal und ideologisch an den Nationalsozialismus an und vertreten einen offenen Rassismus. Rassismus und Eugenik waren jedoch, wie das Buch nachweist, zwei Seiten derselben Medaille. Dagmar Herzog dokumentiert erste, noch verhaltene Angriffe der AfD auf die gesellschaftliche Teilhabe behinderter Menschen, beispielsweise in ihrem Wahlprogramm von 2016. Es wendet sich gegen die "ideologisch motivierte Inklusion von Kindern mit Lernbehinderung in Regelschulen", die "erheblichen Kosten" und die angebliche Behinderung anderer Schüler in "ihrem Lernerfolg".

Die Autorin bleibt aber optimistisch: "Die Umsetzung eines veränderten Paradigmas – in Theorie und Praxis – wird regelmäßig anerkennend bekräftigt. Auch wenn es Rückschläge gibt, entstehen nahezu täglich neue Initiativen für Inklusion. Die Lernkurve (...) war steil und beeindruckend." Und: "Es liegt an uns allen, diese Revolution (...) gedanklich und praktisch zu vollenden." So endet das Buch.

Dagmar Herzogs Werk ist mit seinem wissenschaftlichen Anspruch, den vielen Quellenangaben und Anmerkungen keine ganz leichte Kost. Aber es ist lesbar geschrieben und hat eine große Intensität. Für alle, die in Eingliederungshilfe tätig sind, sollte es eine Pflichtlektüre sein.

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