„Ich habe Glück gehabt, dass es mich gibt“
Das Leben des Georg Paulmichl
Georg Paulmichl
„Die Welt braucht keine behinderten Menschen.
Aber da sind sie trotzdem.
Mit Geburtsgebrechen hat Jesus die Behinderten in die Welt geschickt.
In den Behindertenwerkstätten basteln sie Korbgeflecht.
Die Dorfbewohner sind froh, wenn sie keine Behinderten zu Gesicht kriegen.
Bei der Opfermesse singen sie die falsche Tonleiter.
Im Neubau der Behindertenwerkstätte wird das Leben eingeübt.
Die Betreuer sind streng und voller Ungeduld.
Die Körperbehinderten sind in den Rollstuhl integriert.
Ob sie im Himmel Einlass finden, weiß nur der liebe Gott.“
Geniale Wortschöpfungen, entlarvende Verballhornung
„Was der Georg Paulmichl sagt, ist für mich die höchste Stufe der Poesie, die ein heute lebender Mensch erklimmen kann.“ So urteilte der Schauspieler und Fernsehmoderator Dietmar Schönherr über den Schriftsteller Georg Paulmichl. Sein Schauspielkollege Felix Mitterer assistierte: „Er hat die deutsche Sprache quasi neu erfunden. Für seine genialen Wortschöpfungen, für seine entlarvenden Verballhornungen, für seine kurzen, lakonischen, haargenau den – wunden – Punkt treffenden Sätze tausche ich alle Satiriker, Humoristen und Aphorismen-Schöpfer der letzten hundert Jahre ein.“
Der so hoch gelobte Autor und Maler arbeitete in einer kleinen Behindertenwerkstatt in Prad, einem Dorf am Ende des Südtiroler Vinschgaus. Dort erkannte der Kunsttherapeut Dietmar Raffeiner sein Sprachtalent und seine künstlerische Begabung und er begann, seine Geschichten und Texte zu Papier zu bringen. Das war der Beginn einer Karriere als Schriftsteller und Maler, die sich in zehn Büchern niederschlagen sollte. Kaum jemand, der seine Texte las, konnte sich ihrer Besonderheit entziehen. Er hatte Leser und Fans im gesamten deutschsprachigen Raum und eröffnete vielen Menschen einen neuen Blick auf Menschen mit „geistiger Behinderung“. Um die Jahrtausendwende erkrankte Georg Paulmichl an Parkinson. Er starb zu Beginn der Corona-Pandemie, im März 2020 mit 59 Jahren.
In der Werkstatt bin ich ein Dichter
Wir wollten dem Phänomen Paulmichl näherkommen und sprachen mit seinem Entdecker und Mentor Dietmar Raffeiner. Er ist seit einem Jahr berentet und wohnt weiterhin in Prad, einem Ort mit knapp 4.000 Einwohnern. Er traf Georg Paulmichl im Jahr 1980, als er in der Werkstatt als Anleiter für das Mal- und Zeichenangebot angestellt wurde. Georg Paulmichl arbeitete damals dort bereits seit drei Jahren und war 20 Jahren alt. An seine ersten Eindrücke erinnert sich Dietmar Raffeiner so: „Georg hat ständig geredet und alle fanden ihn anstrengend. Zum Teil war es ein regelrechter ‚Sprachüberfall‘. Handwerklich war er unbegabt, keiner konnte mit ihm so recht was anfangen. Mir fiel seine Sprachbegabung auf. Sprache hat mich neben Philosophie schon immer interessiert. Georg selber konnte zwar schreiben, aber nicht so, dass er seine Gedanken zu Papier brachte. Also begann ich damit, Dinge, die er sagte, aufzuschreiben. Ich stand in Kontakt mit Michael Bürkle, einem Sprachwissenschaftler an der Uni Innsbruck. Dem schickte ich meine Aufzeichnungen und er fand sie ‚außerordentlich‘.“
In der Folgezeit arbeiteten die beiden fast täglich zusammen. Georg Paulmichl suchte sich ein Thema, Dietmar Raffeiner saß an der Schreibmaschine. Der Stern-Reporter Gabriel Grüner, ebenfalls Südtiroler und ein Förderer des jungen Autors, beschrieb den Schreibprozess so: „Es gibt Tage, wo der Autor Satz 'on Satz reiht, einmal Geschriebenes umstellt und korrigiert, es geschieht aber auch, daß die Texte mühselig in einem Frage- und Antwort-Spiel entstehen. Immer aber ist es Georg Paulmichl, der den Anstoß zum Schreiben gibt, und immer werden die Geschichten so in die Maschine getippt, wie der Autor sie mündlich formuliert.“
Die Themen stammten aus Paulmichls dörflichem Alltag. Es ging um den Schützenaufmarsch, die Feuerwehr und den Männerchor, um Hochzeit und Familie. Als eifriger Fernsehkonsument beschäftigte er sich auch mit Politik und bildete sich u.a. eine Meinung über die Nachbarländer und deren Politiker. Auch zu grundsätzlichen Themen wie Krieg, Tod und Religion machte er sich Gedanken. Es gelang ihm, seine oft überraschende Sicht auf die Dinge mit wenigen Worten zu skizzieren. Er verwendete Begriffe in ungewöhnlicher Bedeutung oder schuf neue Wortkombinationen. Von seinem Vater hatte er einen feinen Hang zur Ironie übernommen.
Dietmar Raffeiner illustriert seine Spontanität mit einer Anekdote: „Für einen Film sollte ein Pfarrer einen Text von Georg vorlesen, was er auch tat. Die Aufnahme fand in der Sakristei statt und Georg war dabei. Der Pfarrer war ganz offensichtlich betrunken und Georg fragte laut und direkt: ‚Dürfen Pfarrer saufen?‘ Er hat einfach gesagt, was er sah und was ihm dazu einfiel.“
In der Zeitschrift "Los" wurden 1984 zum ersten Mal Texte von Georg Paulmichl einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. 1987 entschloss sich die Prader Werkstatt zu einer Buchveröffentlichung im Eigenverlag. Der Titel lautete „strammgefegt“. Das Buch wurde zusammen mit Werkstattwaren auf einem Marktstand verkauft, Georg war oft dabei. Er sprach die Leute an und entpuppte sich als guter Verkäufer in eigener Sache. Häufig bildete sich eine Traube von Lesern um den Stand, die seine besondere Sicht auf den Dorfalltag interessant fanden. Die Auflage war bald vergriffen.
Ein Bekannter vermittelte den Kontakt zum österreichischen Haymon-Verlag, der anfangs skeptisch war, 1990 aber die ersten Texte und Bilder von Georg Paulmichl veröffentlichte. Dieses Buch mit dem Titel „Verkürzte Landschaften“ erschien in etlichen Auflagen und plötzlich war der Autor im ganzen deutschsprachigen Raum präsent. Kabarettisten und Schauspieler rezitierten seine Texte auf der Bühne. Sie wurden vertont und sind auf youtube veröffentlicht, mit kongenialen Zeichnungen des Meraner Karikaturisten Peppi Tischler versehen, ins Italienische übersetzt. Georg ging auf Leserreise, vor allem in Österreich, aber auch in Deutschland, u.a. im Residenztheater in München und im Deutschen Theater in Berlin.
Bildwerk aus “Der Georg” – 2008
„In der Werkstatt bin ich ein Dichter.
Dichter sein ist ein feiner Beruf.
In der Werkstatt sind alles Behinderte.
Ich bin nicht behindert, ich kann reden.“
Die Leute wissen, dass ich in dieser Welt lebe.
Die Behinderung des Sohnes war für die Eltern belastend, Georg war ihr Sorgenkind. Sie versuchten ihn so gut wie möglich zu fördern, aber nach der Sonderschulzeit war die einzige Möglichkeit zur Lebensgestaltung die Arbeit in der örtlichen Behindertenwerkstatt. Mit der Zeit war ausgerechnet Georg das bekannteste Mitglied der Familie. Er selbst kommentierte diese Wendung mit dem lakonischen Satz: „Ich war der niederste, jetzt bin ich der höchste Paulmichl“. Der Vater stand der Schriftstellerei anfangs skeptisch gegenüber. Als die Universität aber den Texten literarischen Wert attestierte, hat er ihn oft zu Lesungen gefahren. Leider ist er schon im Jahr 2003 verstorben.
Der jüngere Bruder Richard hat schon im Jahr 2012 ein Georg-Paulmichl-Archiv aufgebaut. Dort schreiben er und seine Schwester Christine:
„Die lebensgeschichte von georg, gäbe es sie nicht, könnte man sie nicht erzählen. denn so eine geschichte kann man nicht erfinden. so unglaublich und geheimnisvoll klingt sie. sein leben hat sich ganz anders abgespielt, wie es eigentlich vorbestimmt schien. sein leben beweist, dass eigentlich nur wenig vorgegeben ist; vieles entwickelt sich, wenn man nur die möglichkeit dazu hat. georg hat auf seinem lebensweg menschen angetroffen, die in ihm einen menschen sahen und sehen, ohne wenn und aber. er hat sich entwickeln dürfen. er konnte einen teil seines lebens auch selbst in die hand nehmen und gestalten. Er weiss das und ist dankbar dafür. georg ist zutiefst sensibel, herzvoll und kommunikativ; er glaubt an das gute, friedliche und profunde in dieser welt. das macht seine grösse aus und so war er seit seiner kindheit. seine berühmtheit veränderte ihn nicht. seine krankheit erträgt er stoisch. wir sind stolz auf unseren bruder. georg, auch wir haben glück gehabt, dass es dich gibt!“
Die Werkstatt gab der Besonderheit ihres Mitarbeiters Raum und förderte sie, der Schreibprozess verlief aber nur zwischen dem Autor und seinem Mentor. In Prad war der Autor anfangs nicht existent („In Prad grüßt mich keiner“). Mit den Veröffentlichungen wurde er zunehmend bekannter. Dazu trugen auch die Filme bei, die ZDF und ORF über ihn drehten. 2007 erhielt Georg das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst und er wurde Ehrenbürger von Prad - als erster Mensch mit geistiger Behinderung. Zu Paulmichls Geburtstagen zog die Musikkapelle vor sein Haus und brachte ihm ein Ständchen.
„Ein Künstler sein ist feiner als ein Depp.
Als Künstler hat man Ruhe und der eigene Name wird hergezeigt.
Die Leute kennen mich, bewundern mich und wissen, daß ich in dieser Welt lebe.“
Bildwerk aus “Der Georg” – 2008
Der Tod treibt das Leben vor sich her
Erste Anzeichen einer Parkinson-Erkrankung zeigten sich bereits 1998. Die Diagnose wurde Anfang der 2000er Jahre gestellt. „Danach ging es sukzessive bergab, die Motorik war eingeschränkt, ab 2012 auch die Sprache. Fünf Jahre lang besuchte Georg noch die Werkstatt. Dann betreuten zwei Pflegerinnen ihn und seine Mutter, die an Demenz litt, im Elternhaus.“ Im März 2020 ist Georg Paulmichl gestorben. Wegen der Corona-Pandemie musste die Beerdigung im engsten Kreis erfolgen.
Die Tiroler Tageszeitung schreibt in einem Nachruf: „Paulmichls Arbeiten sprengen jedes Schema: kurze Prosaverdichtungen, randvoll mit teilnehmenden Beobachtungen und geschult an rituellen Phrasen – katholischen genauso wie touristischen. ‚Südtirol‘, heißt es da, ‚ist ein Luftkurort zur Beatmung der Lungenflügel.‘ Und in den Innsbrucker Gasthäuser, weiß Georg Paulmichl zu berichten, ‚kann man sich köstlich abspeisen lassen‘, während in Rimini ‚Menschenhaut von der prallen Sonne überschattet‘ werde. (…) Das große Geheimnis von Paulmichls Texten: Sie haben einen doppelten Blick, sind manchmal absurd und meistens lustig, ohne dass etwas zwanghaft verblödelt wird. Lachen und Weinen über Zeit und Zustände liegen nah beieinander.“
Bildwerk aus “strammgefegt” – 1987
„Der Tod schreitet mit schnittigem Gebein.
Das Leben zerrinnt wie im Buche.
Überall sucht der Tod seine Einflußnahme zu bevollmächtigen.
Sensenmänner dirigiert er über Hügel und Täler.
Der Tod treibt das Leben vor sich her.
Auch der Bürgermeister wird eines Tages zum Knochengebein verworfen.
Alle treibt er in finstere Grabesgruft.
Nichts mehr bleibt übrig, nur ein Häufchen Elend.“
Zeitweise haben wir völlig vergessen, dass wir in einer Behindertenwerkstatt waren
Aus Anlass seiner Berentung äußerte sich Dietmar Raffeiner in einem Interview mit dem „Vinschger“ kritisch zu Institution Werkstatt. Die italienischen Werkstätten erinnern an die Anfänge der deutschen „Beschützenden Werkstätten“. Es sind weiterhin kleine wohnortnahe Einrichtungen mit einfachen Arbeitsangeboten wie Körbeflechten und Näharbeiten. Die Pader Werkstatt hat 25 Plätze, bei einer Einwohnerzahl von ca. 4.000 Personen. Aus Raffeiners Sicht sind die Werkstätten zu sehr auf Versorgung und Bewahrung ausgerichtet, zu sehr abgeschnitten vom sozialen Umfeld: „Ein Leben in der Isolation.“ Was fehle, sei zum einen die Möglichkeit zur Begegnung mit der Bevölkerung. Zum andern nähme die Werkstatt zu wenig ihre Chancen wahr, die Besonderheit der Beschäftigten zu entdecken und zu fördern.
Wenn er Georg Paulmichl nicht unterstützte hätte, wäre dessen Talent nie sichtbar geworden. Der Umgang müsse geprägt sein von Interesse, Neugier, spielerischer Selbsterprobung und einer Begegnung auf Augenhöhe. Diese Haltung habe die Entwicklung von Georg erst ermöglicht.
„Bei manchen seiner gewagten Formulierungen hat mich Georg immer wieder gefragt, ob man das so überhaupt sagen darf? Und er durfte ohne Vorbehalt alles sagen. Im Schreiben mit Georg kam es immer auf diesen einen Augenblick einer eigenwilligen Formulierung an, auf diesen Augenblick einer einzigartigen stilistischen Individualität. Dies ließ uns zeitweilig völlig vergessen, dass wir in einer Behindertenwerkstatt waren, eben in einem gesellschaftlich ausgewiesenen Ghetto.“
Die Entwicklung als Dichter, die Georg genommen hätte, sei nicht geplant, und nicht vorhersehbar gewesen. „Es ist passiert und war irgendwann nicht mehr aufzuhalten.“
„Die Dorfbewohner sind froh, wenn sie keine Behinderten zu Gesicht kriegen.
Bei der Opfermesse singen sie die falsche Tonleiter.
Im Neubau der Behindertenwerkstätte wird das Leben eingeübt.
Die Betreuer sind streng und voller Ungeduld.
Die Körperbehinderten sind in den Rollstuhl integriert.
Ob sie im Himmel Einlass finden, weiß nur der liebe Gott.“
Bildwerk aus “strammgefegt” – 1987
Meine Lebensbegabung liegt in der Freundlichkeit
„Der Georg, das bin ich, der Mann mit dem verwachsenen Brillenglas im Gesicht.
Die Götter haben mich nicht erfunden, ohne Genehmigung bin ich in der Wiegenschaukel gelegen.
Aufgewachsen bin ich als Schüler und Jüngling hinter den Bergen, am abrutschendem Stilfser Bodenhang.
Das Vinschgauer Oberland ist mein Paradies für den Schmarrenverzehr.
Ohne Zornesfalten bin ich in der Weltlage erschienen.
Gesund bin ich auch bis unter dem Haarschopf auf dem Kahlschädeldach.
Die Parkinsonbazillen haben mich heimgesucht.
In der Abenddämmerung machen die Müdigkeitsglieder schlapp.
Der Parkinsoneinschlag regiert die Fußlähmung.
Jünger werden tu ich nicht mehr, aber den Grabgesang lass ich noch nicht einüben.
Meine Lebensbegabung liegt in der Freundlichkeit.
Für die einheimische Sprachkultur bin ich eine Erlösungsphase.“
Georg Paulmichls Werk kann man im Haymon Verlag bestellen.
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