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„Ich sehe Biografiearbeit auch als Entwicklungschance für Werkstätten“

Erfolgreiche Teilhabeplanung durch eine lebensgeschichtliche Orientierung

Bild „Ich sehe Biografiearbeit auch als Entwicklungschance für Werkstätten“
Junger Mann mit Triosomie zeigt den Daumen hoch

 25. April 2023 |  Katrin Euler | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Werkstätten, Kostenfreie Artikel, Im Gespräch mit...

Teilhabeplanung im Bereich Arbeit erforderte schon immer eine Orientierung an den beruflichen Erfahrungen und beruflichen Erwartungen der jeweiligen Person. Biographiearbeit ist in diesem Zusammenhang also ein wertvoller Ansatz, um beeinträchtigte Menschen im Arbeitsleben bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit und ihrer beruflichen Orientierung zu unterstützen. Wir sprachen mit Lisa Oermann, der Referentin unseres Seminars „Berufliche Zukunftsperspektiven gemeinsam entwickeln“ über die Chancen einer erfolgreiche Teilhabeplanung durch eine lebensgeschichtliche Orientierung.

Frau Oermann, Sie geben seit 15 Jahren Veranstaltungen im Bereich der Eingliederungshilfe zum Thema „Biografiearbeit“. Was ist es, das Sie an dem Thema so fasziniert?

Es ist einfach immer wieder beeindruckend, welche Geschichten Menschen erzählen. Und ich bin immer ganz dankbar, wenn Menschen mir erlauben, dabei zu sein, wenn sie sich mit ihrem Leben beschäftigen und erzählen, wie verschiedene Dinge in ihrem Leben zusammenhängen und einander bedingen. Ich empfinde das als ein großes Geschenk und einen Vertrauensbeweis, über den ich mich sehr freue und der mich auch deswegen so fasziniert, weil jedes Mal wieder deutlich wird, über welche Ressourcen jede und jede von uns verfügt, um selbst in ganz schwierigen Lebenssituationen irgendwann immer wieder im übertragenen Sinne den Kopf über Wasser zu bekommen und über den weiteren Verlauf der Geschichte mitzubestimmen – und sei es nur ein ganz kleines bisschen.

An wen richten sich Ihre Angebote?

Meine Veranstaltungen richten sich an MitarbeiterInnen der Eingliederungshilfe aber auch an Leistungsberechtigte. Und gerade dieser Personenkreis hat meiner Erfahrung nach viel zu selten Unterstützung dabei bekommen, die eigene Lebensgeschichte zu reflektieren, sich die Bewältigung herausfordernder Erfahrungen und Ressourcen vor Augen zu führen und sich dann derartig gestärkt neuen Lebensaufgaben zuzuwenden.

Dies ist ein wesentliches Ziel meiner Veranstaltungen: Zu begreifen, dass die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte wesentlich ist für die Entwicklung von Zukunftsperspektiven. Dafür biete ich nicht nur das nötige Hintergrundwissen an, sondern auch ein Erproben geeigneter Methoden und den wesentlichen Teil an Selbsterfahrung.

Was bedeutet „Biografiearbeit“?

Es gibt keine einheitliche Definition des Begriffs ‚Biografiearbeit ‘ und er wird zum Teil sehr unterschiedlich verwendet. Um sich dem Begriff zu nähern, kann man sich zuerst fragen, was denn ‚Biografie‘ überhaupt bedeutet.

Biografie ist ein sehr komplexer Begriff, den ich hier nicht umfassend darstellen kann. Ich rede darum gerne etwas einfacher von ‚Lebensgeschichten‘. An diesem Begriff lässt sich der Unterschied zum verwandten Begriff ‚Lebenslauf‘ besser erklären: Im Lebenslauf bringen wir objektive Daten unseres Lebens zusammen, klassischerweise unsere schulische und berufliche Laufbahn. Bei einer Bewerbung lassen sich diese Daten leicht mit denen anderer BewerberInnen vergleichen. Wie bedeutsam diese Daten für unser Leben sind, darum geht es bei der Frage nach dem Lebenslauf nicht.

In Lebensgeschichten geht es jedoch genau um die Dinge, die uns in unserem Leben wichtig waren, Erlebnisse und Erfahrungen, die einen Unterschied gemacht haben, die uns bewegt und verändert haben. Diese Erfahrungen hängen zusammen mit historischen und gesellschaftlichen Umständen, sie sind verwoben mit Menschen, mit denen wir zu tun haben, mit unseren Vorstellungen von ‚Alltag‘ und Erlebnissen, die davon abweichen.

Spannend ist, dass wir nicht immer dieselben Geschichten betrachten, wenn wir aus unserer Biografie erzählen, und dass wir Geschichten auch nicht immer gleich erzählen: Lebensgeschichten sind in ihrer Wahrnehmung veränderbar, die Gründe dafür sind vielfältig und hängen eng mit dem komplexen Biografie-Begriff zusammen und der Frage, wie eine Biografie überhaupt entsteht. Eine Biografie ist nichts Statisches, und genau darin liegt auch der Reiz: Wie können wir Menschen dabei unterstützen, ihre Lebensgeschichte aus unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren, Neues in der eigenen Geschichte zu finden und sich selbst in den unterschiedlichen Facetten besser kennenzulernen. Dafür braucht es ein bestimmtes Setting, eine Begleitung, eine Moderation. Das ist dann, nach meinem Verständnis, Biografiearbeit, genauer: pädagogisch geleitete Biografiearbeit.

Was macht ein solches, pädagogisch geleitetes Setting aus?

Dieses Setting ist geprägt von den Menschen, in deren Anwesenheit und mit deren Unterstützung ich mich mit meiner Geschichte beschäftige. Es hat einen großen Einfluss auf die Richtung, aus der ich mich meinem Leben zuwende und die Art und Weise, in der ich mich präsentiere. Dieser Aspekt ist wichtig – ModeratorInnen von Biografiearbeit müssen den Einfluss, den ihr Sein unweigerlich nimmt, reflektieren, um Menschen sensibel begleiten zu können. Auch das ist Inhalt meiner Veranstaltungen.

Was ist das Ziel von Biografiearbeit?

Ziel pädagogisch geleiteter Biografiearbeit ist es, auf die Vergangenheit zu blicken und das eigene Gewordensein in Beziehung zu gesellschaftlichen und historischen Einflüssen zu interpretieren. Es geht darum zu erkennen, mit welchen Chancen, mit welchen Hindernissen man es auf seinem Weg zu tun hatte und wie man unter diesen Umständen den eigenen Weg gefunden hat. Aber dabei bleibt es nicht: Biografiearbeit will über diesen Weg dabei unterstützen, Mut für die Gestaltung der Zukunft zu schöpfen und Perspektiven zu entwickeln. Pädagogisch geleitete Biografiearbeit verbindet also Vergangenheit und Zukunft und versucht, rote Fäden im Leben zu finden und dabei die Handschrift der BiografieträgerInnen aufzuzeigen.

Biografiearbeit ist damit nicht Ausdruck einer bestimmten Methode, sondern verkörpert einen pädagogischen Ansatz, hinter dem eine Vielfalt an Methoden steckt.

Wie kann Biografiearbeit die WfbM bei ihrem Auftrag nach §219 SGB IX unterstützen?

Biografiearbeit zeichnet sich durch eine konsequente Personenzentrierung aus. Sie ist ein personenzentrierter pädagogischer Ansatz, mit dem sich große Leitbegriffe wie „Inklusion“, „Teilhabe“ oder „Selbstbestimmung“ in Bezug auf den einzelnen Menschen mit Inhalt füllen lassen.

Die Teilhabe am Arbeitsleben, die u.a. durch die WfbM gewährleistet werden soll, erfordert eben diese Personenzentrierung, damit Teilhabe nicht zu einem beliebigen Beschäftigungsangebot wird, sondern – ganz im Sinne des BTHG – ausgeht von den Wünschen und Bedarfen der leistungsberechtigten Personen. Insofern ist auch im Kontext der WfbM eine konsequente Zuwendung zum einzelnen Menschen erforderlich, wenn es darum geht, passgenaue Arbeitsangebote zu schaffen und so Teilhabe zu verwirklichen. Die Bedarfsermittlungsinstrumente der einzelnen Bundesländer mit ihrer Ausrichtung an der ICF unterstreichen dies ja auch deutlich. Für Werkstätten geht mit Biografiearbeit also die Chance einher, ihr Angebot an Teilhabe am Arbeitsleben zu verbessern und sich selbst als Anbieter weiterzuentwickeln.

Welche besonderen Herausforderungen würden Sie benennen?

Die Herausforderungen einer guten Bedarfsermittlung sind schon länger bekannt. Ein Aspekt dabei ist der Unterstützungsbedarf beeinträchtigter Menschen, wenn es um die Entwicklung eigener Wünsche bzw. deren Formulierung geht. Hinzu kommen lebensgeschichtliche Erfahrungen der Ausgrenzung und der Be-Hinderung bei der Verwirklichung von Zielen. Dies wirkt sich aus auf die Bereitschaft, auf den Mut, neue Perspektiven zu entwickeln – aus Angst, erneut enttäuscht zu werden, oder auch in dem Wissen, dass lange Wege der Beantragung bevorstehen könnten, die man ohne Unterstützung Dritter gar nicht bewältigen kann.

Biografiearbeit geht hier also auch einher mit der Chance für Leistungsanbieter (und übrigens auch für Leistungsträger!) ,Barrieren und Hemmungen bei Zielplanungsgesprächen auf Seiten der Leistungsberechtigten zu verstehen und diesen konstruktiv zu begegnen – sofern bei den Erstgenannten die Bereitschaft besteht, die eigene Rolle im Geflecht kritisch zu reflektieren.

Unser Eindruck bei 53° NORD ist, dass Biografiearbeit in WfbM nicht stark verbreitet ist. Was meinen Sie, woran das liegen könnte?

Also Werkstatt ist ein besonderes Konstrukt. Auf der eine Seite ist WfbM ein Ort der Eingliederungshilfe und auf der anderen Seite muss produziert werden, müssen Aufträge erledigt werden. Das ist das, was gemeinhin als ‚Doppelauftrag‘ beschrieben wird. Und das geht dann in das Selbstverständnis der unterschiedlichen MitarbeiterInnen über, die aus einer unterschiedlichen (auch berufsbiografischen) Richtung kommen: Der Sozialdienst oder die MitarbeiterInnen im Gruppendienst, die auch immer ihren unterschiedlichen Focus haben, die aber bei näherem Hinsehen nicht ohne die jeweils andere Seite arbeiten können.

Meiner Erfahrung nach steht in WfbM – nicht ohne Grund – zunächst die Arbeit, die Produktion im Vordergrund, und da passt Biografiearbeit auf den ersten Blick nicht so rein. Denn Biografiearbeit lässt sich nicht auf rein Berufsbiografisches beziehen, sondern bedeutet immer ein Auflösen von den Grenzen Arbeit-Freizeit-Freunde etc. Es geht immer um das potentielle Ganze. Ich kann das dann nachher auf das Berufliche beziehen, aber ich muss mich erst einmal öffnen für alle Aspekte meiner Lebensgeschichte, um dann herauszufinden, was habe ich eigentlich in meinem Fähigkeiten-Päckchen und was bringt mir das im Bereich Arbeit. Wo das herkommt, ist im Nachhinein dann egal. Wenn ich es für den Beruf oder die Beschäftigung anwenden kann, ist es ja gut. Und ich glaube, dass das oft nicht so naheliegend ist, das mitzudenken.

Um es noch einmal anders zu erklären: Wenn ich Ihnen erzählen sollte, wie ich zu meiner Berufswahl gekommen bin, zu meinem jeweiligen Arbeitgebern und Aufgaben, zu meiner Entscheidung, mich selbstständig zu machen, dann kann ich Ihnen das nicht getrennt von anderen Teilen meiner Lebensgeschichte erklären, dann müssten Sie mir schon etwas länger zuhören, um zu verstehen, warum ich jetzt hier bin – und welche Ideen mir noch so durch den Kopf gehen!

Ein weiterer Aspekt ist möglicherweise auch, dass jede Werkstatt ein bestimmtes Angebot an Arbeit hat. Biografiearbeit als personenzentrierter Ansatz kann natürlich dazu führen, dass Menschen ganz eigene Ideen und Wünsche für ihr Arbeiten entwickeln und Werkstätten so zum Handeln auffordern. Biografiearbeit stärkt Menschen, weckt im besten Fall Ansprüche und kann damit für ein System auch unbequem werden.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Stellen Sie sich vor, ein junger Mensch im Berufsbildungsbereich entwickelt für sich den Wunsch, in einer Fahrrad-Werkstatt zu arbeiten. Der BBB-Standort hatte einen solchen Arbeitsplatz im Repertoire. Nach dem Übergang in den Arbeitsbereich wechselt der Leistungsträger. Fahrdienste werden beispielsweise nicht mehr bis zum BBB-Standort übernommen, sondern nur bis zur nächstgelegenen WfbM. Sofern der Mensch nicht selbstständig zum Standort mit der Fahrrad-Werkstatt kommt, ist er an die Arbeits-Angebote der WfbM gebunden. Und damit an etwas ganz anderes, als ursprünglich gewünscht. Das ist dann extrem demotivierend, auch für die MitarbeiterInnen, die zuvor an dieser Zielperspektive und dem Aufbau der notwendigen Kompetenzen gearbeitet haben. Dies ist ein Beispiel für die be-hindernden Erfahrungen, die beeinträchtigte Menschen in Bezug auf ihre Wünsche und deren Verwirklichung in Zusammenhang mit Leistungsträgern und Leistungsanbietern machen und die auf Dauer die Bereitschaft, sich für neue Ideen und Wünsche zu öffnen, massiv einschränken können.

Also das heißt, die Chancen die Biografiearbeit bei dem Auffinden von beruflichen Perspektiven hat, machen erst richtig Sinn, wenn man innerhalb seines Unternehmens auch Angebote außerhalb der WfbM hat?

Das wäre ein Fehlschluss. Im Gegenteil: Biografisches Arbeiten kann auch so genutzt werden, dass der Träger sagt „Ich nutze das Instrument, um mich weiterzuentwickeln“. Denn ich weiß, je selbstbewusster und selbstbestimmter die Menschen sind, die bei mir beschäftigt sind, desto mehr kommt an Impulsen, wo möchte ich arbeiten. Desto besser kann ich mich als Anbieter entwickeln und überlegen: Was brauchen wir noch? Und umso motivierter sind die Leute ja auch, das Angebot auch anzunehmen.

Aber das bedeutet: Der Wille mein klassisches Angebot von Werkstatt zu erweitern sollte gegeben sein, damit Biografiearbeit Sinn macht?

Ich würde es lieber andersherum formulieren, denn so würde das ja dazu führen, dass man ganz schnell sagt, wir brauchen das nicht zu machen, denn wir können (oder wollen?) uns hier nicht so entwickeln. Die Devise sollte sein, wie können wir unseren Auftrag besser erfüllen. Also nutzen wir Biografiearbeit und schauen dann, wie können wir diese hochmotivierten, mit Ressourcen vollbepackten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf entsprechende Arbeitsplätze bringen. Und zwar innerhalb oder außerhalb der Werkstatt, je nachdem, was die einzelnen so in ihrem Wünsche- Koffer haben.

Natürlich zielt Biografiearbeit zunächst auf einen biografischen Gewinn für den einzelnen Menschen. Ich würde es aber auch als Entwicklungschance der WfbM sehen, denn auch die Institution kann sich damit entwickeln. Und man muss dafür nicht erst ein wahnsinniges Portfolio aufweisen, sondern kann das nutzen, um das eigene Angebot zu erweitern und so attraktiver zu werden.

Das hat auch den Vorteil, sich nicht mehr so die Kritik gefallen lassen zu müssen, nur ein exkludierender Arbeitsplatz zu sein. Sondern WfbM kann das, wozu sie eigentlich da ist, viel besser nutzen, je besser aufgestellt die einzelnen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind.

Wenn man sich jetzt die Netzwerke und Fotos, Lebensgeschichten anschaut: Wie funktioniert das, dass ich daraus Ableitungen für eine berufliche Orientierung treffe?

Da gibt es kein Rezept, das ist etwas, das sich aus der einzelnen Beziehung, dem einzelnen Fall ergeben muss. Also aus der einzelnen Person und derjenigen oder demjenigen, der dann begleitet. Und auch dem Netzwerk, das sie begleitet. Aber es geht immer um die Frage, was hat bis jetzt gut funktioniert? Warum hat es gut funktioniert? Was soll so weiterlaufen, was soll sich ändern? Das fasse ich natürlich erst einmal sehr weit – Biografiearbeit trennt da nicht in einzelne Lebensbereiche. Das kann dann im Verlauf aber sehr gut auf den Bereich Arbeit fokussiert werden. Dann kann ich gut schauen, wer ist denn da im Bereich Arbeit, wer gehört da zum Netzwerk, wer kann da gut mit mir zusammen denken? Wer hat da Ideen?

Manchmal habe ich den Eindruck, MitarbeiterInnen haben die Erwartung oder die Hoffnung, dass am Ende der Biografiearbeit in gewissem Sinne ein neuer Mensch steht, der nun aufgeklärt und selbstbestimmt seine Geschichte sowie seine privaten und beruflichen Wünsche und Ziele artikulieren kann. Das ist natürlich nicht so. Das eigene Leben und die eigenen Fähigkeiten ändern sich nicht von Grund auf nur, weil ich mich mit meinem Leben beschäftigt habe. Aber am Ende kann eine Möglichkeit auch sein, dass ich sehr viel bewusster in den Job gehe, den ich vorher schon gemacht habe und damit gut zufrieden bin, weil ich weiß, das passt einfach gerade. Oder ich weiß, es gibt noch einen anderen Arbeitsbereich, der mich reizt, oder eine andere Aufgabe.

Wie lässt sich Biografiearbeit finanzieren?

Biografiearbeit lässt sich gut im Rahmen der Teilhabeplanung bzw. der Bedarfsermittlung umsetzen. So wie ich es kenne, gibt es in der Teilhabeplanung einen großen Koffer von Instrumenten und die ganzen biografisch orientierten Ansätze sind Teil davon. Am Ende zählt zwar meistens nur der Bericht, aber die Inhalte können mit Hilfe von Biografiearbeit erarbeitet werden.

Und da sind wir wieder bei dem Punkt, „Warum wird es nicht so gern gemacht“? Es macht Arbeit und es ist personenzentriert, die Beschäftigung einer Person mit einer anderen Person und meinetwegen auch mit einer Gruppe. Aber es ist und bleibt Arbeit und Arbeitszeit, die Kollegen auffangen müssen.

Im Sinne von Eingliederungshilfe ist es jedoch gut investierte, am Menschen orientierte Arbeit, die genau so aufwendig und personenzentriert laufen muss. Nur so finden wir heraus, was Menschen wollen. Wenn wir Personenzentrierung und Selbstbestimmung fördern wollen, dann geht das nur über solche Wege. Das ist ein Ansatz, der dem Menschen sehr gerecht wird.

Für welchen Personenkreis ist Biografiearbeit am besten geeignet, auch für Menschen mit erhöhtem Unterstützungsbedarf oder artikulatorischen Schwierigkeiten?

Auf jeden Fall! Das sind oft die Menschen, die am meisten davon profitieren, dass man sich so intensiv mit ihnen beschäftigt. Hier hat es sich bewährt, Biografiearbeit als Gruppenangebot zu konzipieren und kleine, möglichst heterogene Gruppen zu bilden. Dann können alle gut voneinander profitieren. Mich hat es immer wieder erstaunt, wie viel Unterstützung TeilnehmerInnen, die nicht lautsprachlich kommunizieren, von anderen TeilnehmerInnen bekommen haben und wie genau diese UnterstützerInnen aus deren Lebensgeschichten erzählen konnten und wie sensibel sie mit den besonderen Lebensereignissen umgehen konnten. Davon profitieren nicht nur die Menschen, die auf diese Weise lautsprachlich unterstützt werden.

Wir haben Biografiearbeit auch mit Menschen durchgeführt, die uns nicht lautsprachlich von sich erzählen konnten, für die wir die Methoden stellvertretend – immer jedoch in ihrer Anwesenheit und mit direkter Ansprache – bearbeitet haben. Das waren häufig Menschen aus in den Werkstätten integrierten Tagesförderstätten. Hier waren wir in einem engen Austausch mit Bezugspersonen aus der Familie und aus der WfbM – MitarbeiterInnen aus dem Gruppen- und Sozialdienst sowie mitunter auch beeinträchtigte MitarbeiterInnen. In all diesen Fällen ging von den TeilnehmerInnen das deutliche Signal aus, dass sie gern bei den Veranstaltungen dabei waren. Sie hatten hinterher einen großen Gewinn an biografischer Kompetenz und Sicherheit. Weil sie über die Arbeit, die wir gemacht haben sich besser öffnen konnten und zeigen konnten: So ist mein Netzwerk, so ist mein Leben, so ist meine Familie! Das kann perspektivisch auch zur Sicherung von Lebensqualität beitragen.

Und auch die Fachkräfte denken danach ein bisschen anders über die jeweiligen Personen. Vorher man vielleicht ein bisschen alarmiert und dachten, was wird aus denen? Und plötzlich wird deutlich, dass da Airbags um sie herum waren, wie gut sie in Kontakt und abgesichert sind auch mit anderen Leuten. Zudem geben die unterschiedlichen Sichtweisen den Blick frei für die Ressourcen der Menschen und ihre Erfahrungen. Dadurch stehen der hohe Hilfebedarf und die Bedürftigkeit nicht mehr so isoliert im Vordergrund. Der Mensch gewinnt durch die Biografiearbeit an Kontur und Persönlichkeit und die Beziehungsgestaltung kann ganz anders Fahrt aufnehmen – mit positiven Folgen für den Menschen selbst und sein unterstützendes Umfeld.

Gibt es minimal Voraussetzungen?

Aus meiner Sicht ist die einzige Voraussetzung für Biografiearbeit die, dass jemand wirklich Lust haben muss mitzumachen. Diese Bedingung gilt es aber auch entsprechend ehrlich zu prüfen. Wenn ich das Gefühl habe, jemand will nicht mitmachen, dann sollte man es bleiben lassen. Ich schätze es immer sehr, wenn potentielle TeilnehmerInnen – ob mit oder ohne Beeinträchtigung – den Mut haben, sich entsprechend zu äußern und Abstand vom Angebot der Biografiearbeit zu nehmen. Nicht jeder kann seine Grenzen so gut einschätzen und einfordern.

Da kommen wir zu dem Punkt, was gegen Biografiearbeit sprechen könnte. Und das könnten dann schwierige, mitunter sogar traumatische Erfahrungen sein, die die meisten von uns in irgendeiner Form mit sich tragen. Biografiearbeit ist keine Therapie, das muss man sehr deutlich voneinander unterscheiden und die eigene Verantwortung und die eigenen Kompetenzen als ModeratorIn ehrlich und realistisch einschätzen. Natürlich darf ich entsprechende Bedarfe, wenn ich sie bei Menschen wahrnehme, nicht ignorieren, aber es ist dann meine Aufgabe, entsprechend qualifizierte Unterstützung zu suchen.

Was muss man als Moderatorin oder Moderator mitbringen?

Ein aufrichtiges Interesse an Lebensgeschichten, Lust auf Detektivarbeit und den Mut, auch von der eigenen Lebensgeschichte zu erzählen.

Als Moderatorin gebe ich immer auch meine Geschichte preis. Man kann nicht von anderen erwarten, dass sie was erzählen und ich selber halte mich total bedeckt, das wird nicht funktionieren. Alle Methoden und Dokumente der Biografiearbeit bringe ich, Lisa Oermann, auch ausgefüllt mit. Mache daran aber auch deutlich, was erzähle ich in diesem Kontext über mich - und was erzähle ich nicht. Ich mache damit deutlich, das könnt ihr auch, ihr müsst nicht alles erzählen und ihr müsst auch nicht alles im Detail erzählen.

Diese Bereitschaft, aus der eigenen Geschichte zu erzählen, ist als ModeratorIn von pädagogisch geleiteter Biografiearbeit notwendig, um eine authentische Beziehung zur Gruppe herzustellen und eine Atmosphäre zu schaffen, die es jeder und jedem ermöglicht, sich nach eigenem Ermessen zu öffnen. Eng damit verbunden ist der Respekt vor den Lebensgeschichten anderer Menschen, der sich auch darin äußert, nichts ungefragt weiterzuerzählen – etwa im Team. Sich selbst mit Teilen der persönlichen Geschichte zu zeigen hilft dabei, zu verstehen, warum dieser Respekt und der Anspruch an Vertraulichkeit so wichtig sind.

Wie hoch ist der Zeitaufwand, um gut mit einer Gruppe arbeiten zu können und zu einem guten Ergebnis zu kommen?

Also das ist nichts, was man an einem Tag hinkriegt. Es ist immer die Frage, will ich mich einmal pro Woche treffen oder im Block. Viel spricht dafür im Block zu arbeiten, sich also zwei bis drei Tage am Stück zu treffen – halbtags, um die Gruppe nicht zu überfordern. Bewährt hat sich ein Kurs, der in der Zeit von 8 – 12 Uhr mit den werkstattintern festgelegten Pausen stattfindet. Dann kann man schon relativ viel erarbeiten. Ich persönlich erlebe das auch als produktiver als wöchentliche zweistündige Treffen. Es geht weniger Zeit dafür verloren, sich an die letzten Themen zu erinnern. Und es gelingt leichter, zu begreifen: Jetzt lassen wir uns ein paar Tage auf was Anderes ein und dann haben wir aber auch spürbare Ergebnisse. Dem gehen zwar etwas Vor-und Nachbereitung voraus, aber der Aufwand bleibt im Großen und Ganzen überschaubar, wie ich finde.

Hier kann ich bestimmte Instrumente nutzen, um mir die Arbeit leichter zu machen. Man kann etwa in Absprache mit den TeilnehmerInnen Arbeitsblätter an andere Bezugspersonen rausgeben, auf denen Sie etwas Gutes aus der gemeinsamen Zeit über sie aufschreiben. Im Lebensbuch (Lindmeier & Oermann 2013) gibt es zum Beispiel eine solche Seite. So kann man sich relativ zeitsparend vorbereiten und gleichzeitig das Netzwerk aktivieren und ins Boot holen, ohne dass dieses wiederum über Gebühr zeitlich vereinnahmt wird.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch: Biografiearbeit hört eigentlich nicht auf. Einmal angefangen, macht es Spaß, die Geschichte weiterzuerzählen und zu schauen, was man aus den Perspektiven gemacht hat.

Abschließend zusammengefasst, was würden Sie sagen, warum Biografiearbeit Sinn macht?

Zuallererst erstes bedeutet diese Art des Arbeitens keine Überforderung, sondern ist gut handhabbar – das ist mir wichtig zu sagen! Es braucht natürlich den Willen, eine Art Entwicklung anzustoßen, sowohl in der Organisation insgesamt, als auch bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit und ohne Beeinträchtigung. Aber wenn ich mich dafür entscheide, habe ich damit gut auf die Konten Selbstbestimmung, Personen- und Ressourcenorienterung eingezahlt.

Dann habe ich zufriedenen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Und das ist schön! Denn das Nachdenken über die eigene Lebensgeschichte ist etwas, das uns Menschen eigentlich fast immer Spaß macht und uns gut tut. Und das betrifft auch die Fachkräfte: Für viele von ihnen bedeutet diese Art des Arbeitens eine willkommene Abwechslung zum Alltag und schließt an die ursprünglichen Intentionen an, im Bereich der Eingliederungshilfe zu arbeiten.

Biografiearbeit mit Leistungsberechtigten stärkt auch das Rückgrat der WfbM, gegenüber den Leistunsgträgern dafür einzustehen, was die Menschen wollen. Werkstätten sind ohnehin nah dran am Leistungsberechtigten und haben oft eine gute, vertrauensvolle Beziehung zu ihnen. Biografiearbeit kann hier noch einmal verstärkend wirken.  

Und rückblickend auf unser Gespräch möchte ich die Chancen, die für die Entwicklung von Werkstätten einhergeht, noch einmal betonen: Je besser beschäftigte MitarbeiterInnen über sich selbst, ihre Stärken und ihre Wünsche Bescheid wissen, umso mehr kann sich Werkstatt wirklich personenzentriert verbessern, aufstellen und entwickeln. Und das ist doch eine erstrebenswerte Aussicht!

Danke für das Gespräch!

Hier geht es zum Seminar: Berufliche Zukunftsperspektiven gemeinsam entwickeln!

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