Inklusion und Illusion: Seien wir doch realistisch!
Über das politische Desinteresse an Reformen in Werkstätten
Jüngst habe ich im Internet einen Text einer Frau aus einer Werkstatt in Süddeutschland gelesen. Der Text setze sich kritisch mit der Lebenswirklichkeit von Menschen mit Behinderung in den Werkstätten auseinander. Der Subtext war, ich verkürze das jetzt einmal: Es gibt Werkstätten mit und für Menschen mit Behinderung. Viele arbeiten dort gerne, aber wenn die sich mehr anstrengen würden, könnten die auch auf den allgemeinen Arbeitsmarkt. Denen ist das aber lieber so und ihr Wunsch und Wahlrecht auf Teilhabe am Arbeitsleben ist zu respektieren. Aber wenn die mehr wollten, ginge es auch anders. Die stehen sich so gesehen, selbst im Wege.
Wenn man in die politische Landschaft fragt, findet man viele Unterstützer für diese Meinung. Werkstätten sind auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft ein Hindernis. Und ja, wenn man in die gesellschaftlich historische Entwicklung der Institution Werkstatt für Menschen mit Behinderung schaut, so offenbaren sich aus heutiger Sicht viele Hindernisse beziehungsweise Herausforderungen.
Und genau darum geht es wohl. Niemandem, insbesondere uns als direkt Betroffene, nutzt diese Schwarz-Weiß-Sicht. Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind kein Hindernis auf dem Weg in eine inklusive Gesellschaft. Die Weiterentwicklung von Werkstätten ist eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung und es reicht nicht aus, wenn sich nur Interessensvertretungen, wie zum Beispiel Werkstatträte Gedanken machen, was es braucht. Eine inklusive Gesellschaft lebt vom Engagement aller und braucht an erster Stelle die richtigen politischen Weichenstellungen!
Diese Erkenntnis ist bislang leider noch nicht bei unseren politischen Entscheidungsträgern angekommen. Politik, die ihre behinderungspolitische Programmatik auf die Frage reduziert, ob wir Werkstätten für Menschen mit Behinderung brauchen oder nicht, ist entweder naiv oder arrogant.
Werkstätten abschaffen und blind auf die heilsamen Hände des allgemeinen Arbeitsmarkts zu vertrauen, gleicht einer Arbeitsverweigerung. Denn ein allgemeiner Arbeitsmarkt, wenn er sich allein am Ideal der Leistungs und Profitmaximierung ausrichtet, schränkt den Spielraum für Teilhabe für Menschen mit einem behinderungsbedingten Vermittlungshemmnis rigoros ein.
Ich habe mich letzte Woche mit einem Volksvertreter, Parteizugehörigkeit lasse ich bewusst außer Acht, auf Instagram ausgetauscht und um seine Einschätzung gebeten. Wo stehen wir denn nun, mit unserer vollumfänglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben? Inwieweit ist es gelungen gesellschaftliche Barrieren zu überwinden? Und sind wir tatsächlich auf einem guten Weg…?
Aus dem Stegreif hatte er auch gleich ein paar Statistiken bei der Hand, die seine Aussage untermauern sollten. Leider hatten diese Statistiken ein großes Manko. Die Erfolge betrafen Menschen unterschiedlicher soziokultureller Herkunft oder thematisierten geschlechtsspezifische Unterschiede. Vollkommen gefehlt hat eine Aussage darüber, inwieweit es gelingt, Menschen mit geistiger Behinderung eine Perspektive auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu bieten. Dieser Personenkreis genießt immer noch ein Schattendasein.
Aber zurück zu den Werkstätten. Ohne Frage, wir brauchen Reformen in den Werkstätten und politische Partner, die uns, im speziellen unsere Werkstatträte ernst nehmen und den Rücken stärken. Doch was passiert, wenn sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales auf den Weg macht und versucht etwas zu verändern, hat man gesehen. Der 2023 veröffentlichte Abschlussbericht über das Entgelt in den Werkstätten hat vieles beleuchtet analysiert und mit ein bisschen Wohlwollen wäre er eine Grundlage für einen strukturellen Wandel in den Werkstätten gewesen. Zumindest eine Diskussionsgrundlage.
In der politischen Nachbetrachtung wurde daraus eine Bankrott-Erklärung für die Befürworter der Werkstätten. Mit Befürworter meine ich Menschen, die sich einen reformativen Wandel, sozusagen einen Neustart wünschen.
Es kam anders. Die vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gezogenen Schlussfolgerungen bedeuteten Stillstand. Die Reformen blieben aus, weil sie Mehrkosten bedeuten würden.
Also bleibt alles beim Alten. Und weil auch das schon zu teuer ist, soll Arbeit in der Werkstatt weichen.
Wer die Arbeit aus den Werkstätten heraushalten will, muss sich darüber in klaren sein: Hier wird ein Menschenrecht beschnitten. Was ist dann mit dem Wunsch- und Wahlrecht? Nur der darf Arbeiten, der einen Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt schafft? Wer die Funktion von Werkstätten für Menschen mit Behinderung auf ihren medizinisch-therapeutischen Nutzen einschränkt, schafft neue Minderheiten.
Die Werkstatt für Menschen mit Behinderung darf nicht zu einer "inklusiven Resterampe" werden. Wer die Arbeit aus den Werkstätten verbannt, der entfernt auch ein Stück Lebensrealität aus ebendiesen. Und was ist dann mit der Inklusion? Mit einer vollumfänglichen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben für Menschen mit einem behinderungsbedingten Vermittlungshemmnis? Haben wir, wir rund 310.000 Menschen in den Werkstätten nicht auch ein Recht auf Lebensrealität?
Also, liebes Bundesministerium für Arbeit und Soziales, seien wir doch realistisch.
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