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Keine Teilhabe am Arbeitsleben mehr in den Werkstätten? Oder: Die Schwachen machen dann mal Reha…

Ein Kommentar zum Interview mit Johannes Chudziak (LWL) zur Zukunft von Werkstätten

Bild Keine Teilhabe am Arbeitsleben mehr in den Werkstätten? Oder: Die Schwachen machen dann mal Reha…
Dr. Jochen Walter ist Vorstand der Stiftung Pfennigparade und stv. Vorsitzender der BAG WfbM

 30. August 2023 |  Dr. Jochen Walter | Textbeitrag

  Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Werkstätten

Es ist aus Sicht eines überörtlichen Trägers der Eingliederungshilfe verständlich, für die Finanzierung von möglichst wenig Werksttatbeschäftigten aufkommen zu müssen. Jedoch ist die Lösung, die der neue Sozialdezernent des LWL vorschlägt, in sich widersprüchlich: Werkstätten auf Rehabilitationsaufgaben zu beschränken und ihre Kernkompetenz abzuschneiden – nämlich Arbeit so zu gestalten, dass auch Menschen mit unterschiedlichen und unterschiedlich hohen Unterstützungsbedarfen sie gut meistern können – und zugleich die Vermittlungsquoten nach oben zu treiben, das wird nicht funktionieren.

Der dem Interview nachgelagerte Kommentar der 53° NORD-Redaktion beschreibt dies zutreffend: »Beim Verzicht auf den Wirtschaftlichkeitsgedanken ist zu befürchten, dass die als Reha-Werkstatt konzipierte WfbM zu einer Mischung aus Langzeit-BBB und tagesstrukturierender Maßnahme wird und ihre Arbeitsmarktnähe verliert. Die dort Beschäftigten würden ihre Tätigkeit nicht mehr als echte Teilhabe am Arbeitsleben erleben. Auch das angestrebte Rehabilitationsziel, der Übergang in den Arbeitsmarkt, wäre schwerer zu erreichen. Je arbeitsmarktnäher die ausgeübten Tätigkeiten sind, desto höher stehen die Chancen auf eine Vermittlung.«

Rückschritt in Sachen Inklusion

Zugleich wäre die Konsequenz, dass die aus Sicht von Johannes Chudziak übrig bleibenden beziehungsweise nicht vermittelbaren Werkstattbeschäftigten auf unbestimmte Zeit nicht (mehr) am Arbeitsleben teilhaben dürften, sondern auf die Entgegennahme von Reha-Leistungen begrenzt – und damit ausgegrenzt – würden. Was für ein Rückschritt in Sachen Inklusion! Sehr viele Werkstattbeschäftigte schätzen gerade die »echte« Arbeit, wollen hier ihren Beitrag leisten und so Anerkennung erhalten!

Inklusionsfirmen ausgründen

Interessant und neu in der Debatte finde ich seinen Gedanken, dass Werkstätten regelhaft Inklusionsfirmen ausgründen – möglicherweise auch als Inklusionsabteilungen mit weiter entwickelten Rahmenbedingungen. Als Träger, der sowohl eine große Werkstatt als auch eine große Inklusionsfirma betreibt, wissen wir in der Pfennigparade, wie wichtig spezifische Rahmenbedingungen und Förder-Settings sind. Einfach mal einige Dutzend Werkstattbeschäftigte in die Inklusionsfirma heutiger Prägung zu verschieben, ändert Geschäftsmodelle, Marktnähe und wirtschaftliche Erfolgsbedingungen der Inklusionsfirma – also ihren Charakter, wie jeder Praktiker und jede Praktikerin vor Ort weiß.

Aber möglicherweise ist eine gestufte »Teilhabekette«, nämlich Werkstatt – Inklusionsabteilung – Allgemeiner Arbeitsmarkt (einschl. Inklusionsfirmen), denkbar. Diese Teilhabekette müsste durch ein neu zu schaffendes Inklusions- und Übergangsmanagement bespielt werden, das auch Werkstätten entsprechend in die Pflicht nimmt. In der Werkstatt käme ein existenzsicherndes Entgelt zum Tragen, in der Inklusionsabteilung wie auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt der Arbeitnehmerstatus mit mindestens Mindestlohn.

Arbeitsmarktnaher BBB

Den Berufsbildungsbereich (BBB) weiterhin als preisverhandelte Maßnahme und nicht in einem Ausschreibungssystem zu betreiben, um das notwendige Qualifikationsniveau des Personals und seine Fachlichkeit sicherzustellen, ist richtig und wichtig. Die Frage, wo bzw. in welcher Konstellation ein zukünftiger BBB denkbar ist, sollte immer im Zusammenhang mit den inhaltlichen Zielen diskutiert werden. Ich plädiere hier für eine deutliche Aufwertung eines möglichst arbeitsmarktnahen BBB:

  • Erweiterung bis hin zu einer dreijährigen beruflichen Qualifizierung und Bildung mit bundesweit einheitlichen Zertifikaten und Anerkennung im Rahmen des Berufsbildungsgesetzes
  • zugleich Möglichkeit der Teilqualifizierung (Qualifizierungsbausteine, Voll-, Fachpraktiker- und Werkerausbildungen)

Erst wenn die inhaltlichen Ansprüche an einen zukünftigen BBB umrissen sind, ist die Diskussion um seine Verortung überhaupt zielführend.
 

Aspekte, die häufig zu kurz kommen

Abschließend sei noch einmal auf zwei Aspekte hingewiesen, die aus meiner Sicht in der aktuellen Debatte zu kurz kommen:

Erstens:
Die Diskussion um mehr Übergänge aus den Werkstätten darf die besonders angespannte Situation für viele schwerbehinderte Menschen auf dem Arbeitsmarkt und das Ausmaß der Behinderungen bei den meisten Werkstattbeschäftigten nicht ausblenden. Wenn bisher von erfolgreicher Vermittlung behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt die Rede ist, dann handelt es sich – idealtypisch bzw. zugespitzt – um die geistig rege Rollstuhlfahrerin mit beweglichem Oberkörper oder den körperlich weitgehend gesunden Menschen mit geistiger Behinderung ohne weitere herausfordernde Verhaltensweisen. Aber den lautierenden und ständig mit dem Kopf hin und her schlagenden Mitarbeiter mit regelmäßigen epileptischen Anfällen oder die vollständig von Kopf bis Fuß querschnittsgelähmte Mitarbeiterin, die mehrmals am Tag Pflege benötigt, suchen wir in der Wirtschaft vergebens, in der Werkstatt stellen sie jedoch die Regel dar. Es gibt nämlich nicht »den« Menschen mit Behinderung, Vereinfachungen und Pauschalurteile sind gerade hier fehl am Platz! Die Integration dieser Menschen in die Wirtschaft würde neben individuell zugeschnittenen Hilfesystemen in den Unternehmen (die übrigens nicht zum Nulltarif zu haben sind) vor allem eine andere Kultur der Kollegen und Kollegen sowie der Führungskräfte im Umgang mit schwer- und mehrfach behinderten Menschen voraussetzen.

Zweitens:
Eine nennenswerte Erhöhung der Zugangsquote (potentieller) Werkstattbeschäftigter in den allgemeinen Arbeitsmarkt wird allein durch die Veränderung der Anreize für diese Personengruppe nicht erreicht werden können. Notwendig sind noch mehr Expertinnen und Experten inner- und außerhalb der Werkstätten, die die Beschäftigten coachen und begleiten. Zugleich braucht es eine unbürokratische Weiterentwicklung der Kombination von wirkungsvollen Anreizen und Verpflichtungen für die Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes mit dem Ziel, dass sie mehr Menschen mit Behinderung einstellen.

Denn Werkstätten halten bekanntlich Ausgleichsstrukturen vor für bisher vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossene Personen. Diese Menschen hätten nämlich ohne Werkstatt keinen Bezug zum Arbeitsleben und damit auch keinerlei berufliche Perspektive.

Ansätze zum Abbau dieser Ausgleichsstrukturen sollten immer mit Ansätzen zum Aufbau inklusiver Arbeitsplätze auf dem Arbeitsmarkt korrespondieren, sonst haben wir bald weniger Teilhabe am Arbeitsleben in Deutschland, wie es zum Beispiel in England zu besichtigen ist.

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