Offenheit in Köpfen und Strukturen schaffen
Modellprojekt der LAG A|B|T Niedersachsen: Menschen mit komplexen Behinderungen in Bildung und Beruf bringen

Dr. Andrea Sewing, LAG A|B|T Niedersachsen
Auch Menschen mit schweren und mehrfachen Behinderungen muss der Zugang zur Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht werden, fordert die Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit | Bildung | Teilhabe Niedersachsen. Daran hapert es nach wie vor extrem. Die LAG A|B|T hat nun ihren Abschlussbericht zum Modellprojekt "Unterstützter Übergang aus der Tagesförderstätte in ein Eingangsverfahren einer WfbM für Menschen mit hohem Assistenzbedarf" veröffentlicht. "Die Teilnehmenden sind aufgeblüht und alle haben Fortschritte gemacht", berichtet Vorstandsmitglied Dr. Andrea Sewing. "Es muss damit weitergehen, dass Menschen in der Tagesförderstätte, auch solche mit hohem Pflegebedarf und herausforderndem Verhalten, diese nicht als einzige Perspektive haben!"
33 Teilnehmende
33 Menschen mit schweren Beeinträchtigungen, 21 bis 39 Jahre alt, nahmen am Modellprojekt teil. Das ist zwar statistisch nicht repräsentativ, reiche aber gut für eine Auswertung, meint Dr. Andrea Sewing. Aufgrund der Corona-Pandemie zog sich das Projekt in zwei Abschnitten in die Länge, kann aber jetzt mit Handlungsempfehlungen aufwarten. Bis April 2021 übernahm das Institut für Technologie und Arbeit (ITA) an der Technischen Universität Kaiserslautern die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts, welche die Aktion Mensch finanziell unterstützte.
Der Vorlauf: 2014 wurde auf der Landeskonferenz der damaligen LAG WfbM Niedersachsen beanstandet, dass die Zuweisung aus der Förderschule in Tagesförderstätten bei Menschen mit hohem Assistenzbedarf quasi automatisch verläuft und ebenso der kaum vorhandene spätere Übergang aus der TaFö in den Berufsbildungsbereich. Das heißt: Diese jungen Leute werden nicht gefragt, ob sie sich weiterbilden und berufstätig sein möchten. Dr. Sewing erklärt: "Ein großes Problem ist schon, überhaupt einen Platz in einer Tagesförderstätte zu bekommen. Das Recht dieser Personen auf Entwicklung und berufliche Teilhabe ist auch gesellschaftspolitisch ein absolutes Randthema."
Übergangsassistenzen
Eine Arbeitsgruppe aus Fach- und Führungskräften aus solitären Tagesförderstätten und Förderbereichen in WfbM entwickelte ab 2015 theoretisch passende Fachkonzepte beruflicher Bildung sowie entsprechende Mindeststandards für einen BBB. Langwierige, aber konstruktive Verhandlungen mit dem Land Niedersachsen ermöglichten dann ein Phasen-Modell, mit dem Menschen aus TaFö mit einer Übergangsassistenz das Eingangsverfahren des BBBs schaffen können. Ein direkter Zugang aus der schulischen in die berufliche Bildung konnte nicht verhandelt werden. Auch das Kriterium des Mindestmaßes an wirtschaftlich verwertbarer Leistung, um in einer Werkstatt arbeiten zu können, blieb unangetastet. Mit finanziert wurde jedoch die Verlängerung auf ein sechsmonatiges Eingangsverfahren.
Die Teilnehmenden hatten die Hilfebedarfsgruppen HMB-T 4 und HMB-T 5. Vier solitäre Tagesförderstätten und Fördergruppen elf verschiedener WfbM waren beteiligt. Untersucht wurden im zweiten Projektabschnitt verschiedene Hilfebedarfe wie die Unterstützung beim Toilettengang, beim Mittagessen, sonstige Pflegeleistungen (etwa Medikamente, Kleidung, Hilfsmittel, Lagerung), die Beförderungszeit für die Teilnehmenden und die Zeit für den Hin- und Rückweg der Übergangsassistenzen. Weitere Kriterien waren die Qualität vorhandener Pflegeräume im BBB und deren barrierefreie Erreichbarkeit sowie Kommunikationsmittel, herausforderndes Verhalten und eskalierte Situationen. Besonders wichtig war das Thema Unterstützungsbedarf bei den Aufgaben und Tätigkeiten der beruflichen Bildung.
90 Prozent haben viel gelernt
Für die Auswertung des zweiten Projektabschnittes wurden Fachkräfte befragt, die Übergangsassistenzen übernahmen, sowie Fachkräfte aus dem Berufsbildungsbereich. Laut Abschlussbericht machte 80 Prozent der Teilnehmenden die Arbeit Spaß, 70 Prozent wussten, was sie arbeiten, die anderen überwiegend. Die Hälfte sagte, sie hätte nur Arbeit verrichtet, die sie gern machen wollten, 40 Prozent bestätigten dies überwiegend. Und sehr erfreuliche 90 Prozent fanden, dass sie viel gelernt hätten! "Nicht alle Teilnehmenden sind in den BBB gewechselt und von 33 Teilnehmenden am Modellprojekt haben zehn abgebrochen, aber alle haben sich weiterentwickelt und Erfolge erzielt", resümiert Dr. Andrea Sewing.
Die Lernerfolge waren in beiden Projektabschnitten gut. Neue Erfahrungen in einem anderen Lebensbereich zu machen, habe sich positiv auf die Teilnehmenden ausgewirkt. Ein Teilnehmender mit hohem Unterstützungsbedarf zog das Fazit: "Ich bin so glücklich, dass ich mitgemacht habe und ich habe ganz viel gelernt. Ich freue mich auf den Berufsbildungsbereich und auf die Werkstatt. Ich schaffe das!". "Diese und ähnliche Aussagen bestätigen und ermutigen uns, weiterhin Barrieren abzubauen und Systeme durchlässiger und zugänglicher zu machen", sagt Dr. Andrea Sewing.
Barriere Personalmangel
Eine große Barriere, um aus diesem Modellprojekt gelebten Alltag zu machen, besteht im Mangel an zusätzlichem Assistenzpersonal. In der Befragung meinten 40 Prozent der Fachkräfte, mit dem herkömmlichen Personalschlüssel sei der BBB von Menschen mit komplexen Beeinträchtigungen "voll und ganz" erfolgreich zu bewältigen, 20 Prozent sagten "überwiegend", aber 40 Prozent antworteten "trifft gar nicht zu". Wegen des höheren Hilfebedarfes der Teilnehmenden brauchen die Fachkräfte mehr Zeit für die Pflege, die Verhaltenssteuerung sowie die Anleitung und Vermittlung von beruflicher Bildung. Das Ergebnis im Abschlussbericht lautet: "Dieser Mehraufwand kann nur bedingt von der Übergangsassistenz ausgeglichen werden und wird sehr wahrscheinlich zu Lasten anderer Personen im BBB kompensiert. Es bestehen begründete Zweifel, dass dies im Laufe des BBBs nicht dauerhaft gehalten werden kann und es zu Überlastungen des Fachpersonals führen könnte. Eine solche Situation wiederum wirkt sich möglicherweise negativ auf die psychosoziale Befindlichkeit und Lernerfolge aller BBB-Teilnehmenden aus." Die anderen Beteiligten dürften aber nicht das Nachsehen haben, findet Dr. Andrea Sewing.
Längeres Eingangsverfahren erforderlich
Das Modellprojekt habe grundsätzlich gezeigt, so die LAG A|B|T, dass berufliche Bildung für Menschen mit hohem Hilfebedarf machbar, sinnvoll und erfolgreich sein könne. Um Zugänge zu ermöglichen, müssten aber die hohen Barrieren bei der Beförderung, auf Wegen, in der Pflege und in der Kommunikation rechtzeitig berücksichtigt und verbessert werden. Das Resümee: Die zeitliche Verlängerung des Eingangsverfahrens und die zusätzliche Übergangsassistenz sind dabei grundsätzlich förderlich. Im Abschlussbericht heißt es, dass zwar schon viele innovative Entwicklungen und viel Offenheit für Veränderung bezüglich der Übergänge aus den WfbM vorhanden sind, die Menschen mit komplexen Behinderungen aber keineswegs davon profitieren. Die Realität ist: Sie müssen sich zumeist dauerhaft mit den Tagesförderstätten zufriedengeben. Der Weg zu beruflicher Bildung und der Zugang zu Teilhabe am Arbeitsleben sind ihnen versperrt.
Dr. Andrea Sewing: "Würde ein verlängerten Eingangsverfahrens mit Übergangsassistenz etabliert, könnte man diesen Personen einen passenden Zugang zu beruflicher Bildung ermöglichen, wenn entsprechende personelle und organisatorische Rahmenbedingungen gegeben sind." Die LAG A|B|T setze sich weiterhin dafür ein, dass das Konzept der Übergangsassistenz in einem verlängerten Eingangsverfahren als Leistungsangebot gesichert wird. "In unseren Netzwerken sprechen wir dieses Thema regelmäßig an!"
Es braucht Zutrauen und Freiwilligkeit
Zudem müsse auch der direkte Übergang von der Schule in den BBB ermöglicht werden. "Die Bedingungen des Eingangsverfahrens und im Berufsbildungsbereich müssen sich strukturell verändern." Das Modellprojekt habe gezeigt, dass sich mehr Offenheit im Denken aller Beteiligten erreichen lasse. So hätten etwa Angehörige oft große Sorge vor Überforderung. "Entscheidend ist, dass die Menschen mit hohem Hilfebedarf freiwillig und selbstbestimmt von beruflicher Bildung profitieren können. Da braucht es mehr Zutrauen", fordert Dr. Sewing. Barrieren in den Köpfen zu beseitigen, ist die eine Voraussetzung für Fortschritte. Wesentlich ist es aber, den Personalschlüssel bei Übergängen zu verbessern und in dem zweijährigen Berufsbildungsbereich dann entsprechend der Hilfebedarfe anzuheben: In der TaFö und im Arbeitsbereich einer WfbM beträgt der Personalschlüssel bei der Hilfebedarfsgruppe 5 1:3; im herkömmlichen BBB beträgt er 1:6.
Nehme man es ernst, den Bedarf eines Menschen mit schwerer Behinderung und Ziele auf Augenhöhe zu ermitteln und dessen Entscheidungen zu respektieren, "sollte zumindest über ein Budget für berufliche Bildung auch für Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf nachgedacht werden. Das wäre eine Möglichkeit, Barrieren in Form zeitlicher und personeller Ressourcen abzubauen," meint Andrea Sewing Projekte wie dieses im Land Niedersachsen tragen dazu bei, die Chancen zu erhöhen und Missstände abzubauen. "Wir haben auch nach Projektabschluss Anfragen dazu und wir bleiben dran", macht sie Hoffnung.
Kontakte
Dr. Andrea Sewing, Vorstandsmitglied LAG A|B|T, Vorständin Pestalozzi-Stiftung in Burgwedel
asewing(ät)pestalozzi-stiftung.de
Anja Rinck, Geschäftsführerin Landesarbeitsgemeinschaft Arbeit | Bildung | Teilhabe Niedersachsen
a.rinck(ät)lag-abt-niedersachsen.de
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