Teilautonome Gruppenarbeit (TAG), ein wichtiges Entwicklungspotential in der WfbM
Ein Gespräch mit Kristin Laßmann, Geschäftsleiterin Rehabilitation der Elbe-Werkstätten

Kristin Laßmann, Geschäftsleiterin Rehabilitation bei den Elbe-Werkstätten
Werkstätten für behinderte Menschen funktionieren in der Regel nach dem Prinzip der Aufgabenteilung. Die Fachkräfte sind zuständig für die Produktionsplanung, Arbeitseinteilung, Anleitung und Qualitätskontrolle, die Beschäftigten sind die Ausführenden. Dabei könnte der Arbeitsprozess ein hervorragendes Trainingsfeld sein, eine zentrale Aufgabe der Werkstatt zu erfüllen, die darin besteht, die Verselbständigung und Autonomie der Beschäftigten zu fördern, das Bewusstsein von Selbstwirksamkeit auszubilden und ihnen damit neue und erweiterte Lebenschancen zu eröffnen. Die Verantwortungsübernahme für den Produktionsprozess ist dazu eine ideale Möglichkeit.
Die Elbe-Werkstätten in Hamburg haben es sich als Unternehmensziel auf ihre Fahnen geschrieben, diesen Weg zu gehen. Sowohl in ihrer Werkstattbereichen für Menschen mit überwiegend geistiger Beeinträchtigung auch im Betrieb für Menschen mit psychischer Behinderung erproben sie seit zwei Jahren die Teilautonome Gruppenarbeit. Wir sprachen mit Kristin Laßmann, Geschäftsleiterin Rehabilitation bei den Elbe-Werkstätten, über Ziele, Erfahrungen und Herausforderungen bei der Entwicklung und dem Aufbau von TAGs.
Frau Laßmann, was hat die Elbe-Werkstätten motiviert, teilautonome Gruppenarbeit einzuführen?
Zum einen gab es in unseren Werkstätten Rückmeldungen der Fachkräfte, dass ihnen die Wertschätzung für ihre Arbeit fehlte. Und sie hatten Recht: Unser Fokus liegt stark auf Außenorientierung und es fehlten ihnen Konzepte, die die interne Arbeit aufwerten. Zum anderen wollten wir die Beschäftigten stärken, mehr Selbständigkeit zu entwickeln. Inspiriert wurden wir durch eine Veranstaltung von 53° NORD und durch eigene Ansätze in unserer Werkstatt Dubben in Harburg oder bei Elbe REtörn, dem Betrieb für psychisch erkrankte Menschen. Unser Ziel ist es, dass bis 2030 10 % der Arbeitsgruppen teilautonom arbeiten.
Welche Herausforderungen traten auf?
Eine Schwierigkeit liegt in der Definition: Ab wann gilt eine Gruppe als "teilautonom"? Welche Aufgaben der Fachkräfte sollten mindestens auf die Werkstattbeschäftigten übertragen werden? Welche Tools braucht es, um dieses Ziel zu ermöglichen? Aktuell sind wir dabei, diese Fragen für uns zu klären. Eine Arbeitsgruppe aus engagierten Fachkräften erarbeitet das. Außerdem ist im Einzelfall zu klären, wer als Teamassistent geeignet ist und welche Schulungen nötig sind. Bei Menschen mit geistiger Behinderung braucht es viel Geduld, um Selbstvertrauen aufzubauen.
Welche positiven Erfahrungen gibt es bereits?
Einige Gruppen arbeiten längst sehr autonom – etwa mit Kundenkontakt, eigenem Wareneinkauf oder Mitentscheidung bei Produktionsprozessen. Das betrifft Menschen sowohl mit geistiger Beeinträchtigung als auch mit psychischen Erkrankungen. Sie probieren sich aus und entwickeln sich dabei enorm weiter.
Wie gestalten Sie Rollen und Qualifizierung?
Wir setzen auf die Mentoren, wie wir sie schon aus unseren Elbinseln kennen, Beschäftigte, die Kolleg:innen im Arbeitsprozess anleiten. Teamassistent:innen könnten künftig verbindende Rollen übernehmen, etwa Besprechungen moderieren.
Was sind die "Elbinseln"?
Das sind Lerninseln, in denen Beschäftigte Arbeitsschritte von Mentor:innen erlernen. Lerninseln haben wir 2016 in den Elbe-Werkstätten etabliert. Nach Corona mussten wir sie allerdings neu beleben und dazu ist die teilautonome Gruppenarbeit ein gutes Mittel. TAG funktioniert nur mit solchen Strukturen.
Wie viele TAG-Gruppen gibt es aktuell?
Wir konnten bereits 14 TAG-Gruppen an verschiedenen Standorten in unterschiedlichen Gewerken etablieren. So wird unsere Guttasyn-Arbeitsschutzschürzen ausschließlich von teilautonomen Gruppen produziert.
Wie geht es mittelfristig weiter?
Wichtig ist, dass bis Ende des Jahres an jedem Standort mindestens 2 Gruppen teilautonom arbeiten und wir im Reha-Leitungskreis ständig im Austausch über die Umsetzung bleiben.
Wie wird TAG intern aufgenommen?
Unterschiedlich. Fachkräfte, die immer schon Verantwortung abgegeben haben, sehen es als Wertschätzung. Manche tun sich aber schwer, Aufgaben abzugeben.
Wie verändert sich die Rolle der Fachkräfte?
Sie sollen Autonomie ermöglichen und gewonnene Zeit für individuelle Unterstützung nutzen. Es ist ein Balanceakt und es braucht Vertrauen in die Gruppen.
Wer kommuniziert mit Auftraggebern?
In der Regel die TAG selbst – auch bei Lieferengpässen. Unser Ziel ist, dass alle Gruppen ihre Auftraggeber kennen und eigenständig agieren.
Gibt es Auswirkungen auf die Produktivität?
Dazu liegen und zurzeit noch keine Daten vor. Unser Fokus ist erstmal die strukturelle Umsetzung.
Wer steuert das Projekt?
Die Reha-Leitungen in Zusammenarbeit mit den Produktionsleitungen. Jede Betriebsstätte hat ihre eigenen Verantwortlichen, aber wir entwickeln wie gesagt einheitliche Standards zur Vergleichbarkeit.
Kann TAG die Werkstatt nachhaltig verändern?
Absolut! Die Selbstorganisation der Beschäftigten würde die Werkstatt grundlegend wandeln, auch wenn es Zeit braucht.
Ist der Werkstattrat eingebunden?
Ja, ich habe den Werkstattrat ausführlich informiert, aber die Bedeutung von TAG wird von den Werksatträten unterschiedlich bewertet. Das ändert sich hoffentlich mit der Praxis.
Was erwartet Gäste beim Lokaltermin von 53° NORD am 6. und 7. Mai?
Sie erleben TAG live mit unterschiedlichen Gruppen: Die Beschäftigten erklären selbst ihre Prozesse, von Kundenkontakt bis Produktion. Es ist ein Einblick in die Praxis.
Mehr Informationen
Einen ersten Eindruck in die Arbeit der TAGs bei Elbe gibt die Präsentation auf der Fachkongress "Inklusion ist MehrWert" der LAG WfbM in Hamburg.
Mehr erfahren Sie auf dem Lokaltermin "Teilautonome Gruppenarbeit in der Praxis", Verantwortungsübernahme der Beschäftigten bei den Elbe-Werkstätten in Hamburg.