Was bietet Case Management in der Werkstatt, welche Elemente sind sinnvoll und wo wird es bereits eingesetzt?
Frau Dr. bettina Roccor kniend mit Hund
Was bietet Case Management Werkstätten? Wir führen ein Gespräch mit Dr. Bettina Roccor, zertifizierte Case Managerin (DGCC) und erfahrene Ausbilderin für Case Management. Sie beschäftigt sich seit 2001 mit dem Thema Case Management für Menschen mit Behinderung und hat in mehreren Projekten in WfbMs gearbeitet. Seit 2015 begleitet sie die Rummelsberger Dienste für Menschen mit Behinderung bei der Implementierung und Umsetzung von Case Management.
53° NORD: Frau Dr. Roccor, was genau bedeutet Case Management?
Dr. Bettina Roccor: Ganz allgemein ist Case Management ein Handlungsansatz, der in allen Handlungsfeldern des Gesundheits- und Sozialbereichs zur Anwendung kommt. Und zwar immer dann, wenn man komplexe Fälle steuern muss, bei denen viele Beteiligte mit eingebunden werden müssen und das Ganze sich über einen längeren Zeitraum erstreckt. Es müssen also viele unterschiedliche Professionen, Dienstleister, auch Angehörige oder Ehrenamtliche optimal miteinander verzahnt werden, damit man letztendlich zum Ziel kommt. Das Ziel ist eine bedarfsgerechte, auf den Einzelfall zugeschnittene Leistung und ist in der Regel gedacht für komplexe Fälle.
In der WfbM sind meist nicht mehrere Lebensbereiche betroffen oder viele Leistungserbringer involviert. Warum macht Case Management in WfbM Sinn?
In Werkstätten gibt immer auch Prozesse, die Übergänge beinhalten und Übergänge beinhalten immer auch verschiedenen Schnittstellen mit unterschiedlichen Zuständigkeiten. Wie zum Beispiel der Übergang vom Eingangsverfahren in den Berufsbildungsbereich, oder dann vom BBB in eine Dauerbeschäftigung in den Arbeitsbereich oder eine anderweitige Orientierung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt.
In solchen Situationen muss man erst einmal prüfen: Wie ist die Ausgangssituation?Was wünscht sich der Betroffene? Wo hat er seine Möglichkeiten? Und dann ist es sinnvoll, sich mit den jeweils betroffenen Bereichen abzustimmen, eine ganzheitliche und nachhaltige Lösung zu finden. Und zwar nicht jeder aus seinem einzelnen Bereich heraus. Die Idee von Case Management ist immer, dass der Case Manager die Interessen des Klienten vertritt. Der Case Manager oder die Case Managerin ist quasi die anwaltliche Vertretung der Klienten.
Und gerade diese anwaltliche Haltung gegenüber den Klienten ist das, was in Werkstätten durchaus sinnvoll sein kann. Werkstätten sind häufig dadurch geprägt, dass andere Vorgaben die internen Entscheidungen und Abläufe bestimmen.
Ist Case Management also ein passendes Instrument für den Auftrag zur personenzentrierten Förderung?
Das ist es absolut, weil Case Management ein personenzentrierter Ansatz ist und insofern gerade in der Behindertenhilfe ideal dazu geeignet ist, konsequenter die Forderungen nach mehr Personenzentrierung aus der UN-BRK und dem BTHG umzusetzen. Dass man wirklich die Wünsche und Bedürfnisse der Klienten anhört und ernstnimmt und sie zudem in ihren Vorstellungen und Entscheidungen stärkt. Dafür braucht es aber jemanden, der sagt: „So, ich kümmere mich mal um deine ganz persönlichen Anliegen und Wünsche und habe alle davon betroffenen Aspekte auch im Blick.“
Das klingt, als ob Case Managment auch ein Instrument für einen Haltungswechsel darstellen kann?
Ja, das ist so! Wenn ich als Organisation Case Management einführe und aber möchte, dass sich an meiner Organisation und der Haltung meiner Mitarbeiter*innen nichts ändert, dann ist es von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Case Management ist ein Mittel zum Zweck, um starre Strukturen aufzubrechen.
Haben Sie praktische Erfahrung mit solchen Veränderungsprozessen durch Case Management gemacht?
Also ich habe zum Beispiel einen größeren Träger bei der Einführung von Case Management begleitet. Und es war tatsächlich so, dass die Case Manager*innen immer wieder auf kleinere und auch größere Widerstände stoßen, weil sie eben immer wieder die gewohnten Abläufe und gängige Regeln in der Organisation in Frage stellen. Indem sie aus der Perspektive der Klienten fragen: „Muss das wirklich so sein, ginge es nicht auch anders? Ihr macht seit 30 Jahren das gleiche Angebot, obwohl klar ist, dass das nicht das ist, was sich die Klienten wünschen.“
Case Management verändert also immer auch die Organisation?
Ja, eindeutig. Wenn ich Case Management konsequent mache, dann ändert sich auch meine Organisation. Man sagt immer, die Fallebene – das ist die Einzelfallebene - und die Systemebene – das meint die Organisationseben – müssen immer wechselseitig voneinander lernen. Die Erkenntnisse, die ich aus der Arbeit mit den Klienten sammle, führen dazu, dass ich meine Organisation hinterfrage und bestimmte Abläufe, Schnittstellen und Prozesse dem entsprechend anpasse.
Bedeutet das immer, dass die Systemebene,also die Organisation, sich an die Fallebene, also an die Vorstellungen eines Einzelnen, anpassen muss?
Nein, natürlich nicht. Es kann sein, dass bestimmte Vorstellungen und Wünsche in dem System, in dem sich jemand gerade befindet, nicht anpassbar sind. Dann geht es aber um Übergänge, weil gegebenfalls ein anderes System dem besser gerecht wird bzw. diese Möglichkeit überhaupt anbieten kann. Man kann immer sagen, man optimiert die Zusammenarbeit der bestehenden Angebote oder man erweitert sein eigenes Leistungsspektrum. Oder man schaut, dass man entweder punktuell-individuell was Neues hinzunimmt oder systematisch sagt: Da gibt es einen Bedarf, wo wir feststellen, dass er bei vielen Menschen nicht gedeckt werden kann. Dieser Bedarf wird größer und wir müssen uns dafür ein neues Angebot überlegen oder einen anderen Partner ins Boot holen.
Was für Fähigkeiten muss ein Case Manager bzw. eine Case Managerin mitbringen?
Die sind vielfältig und auch nicht trivial. Jemand der Case Management macht, muss im Umgang mit den Klienten*innen neben Empathievermögen auch in der Lage sein, ergebnisoffen zu arbeiten. Also nicht nach Schema F: „Wo passt Du am besten hin? Sondern mit den Klienten*innen Zielvorstellungen erarbeiten. Dafür braucht es natürlich eine Methodenkompetenz in der Sache, einen Instrumentenkasten, wie ich Gespräche führe und Ergebnisse festhalte.
Und was noch?
Dann muss der Case Manager oder die Case Managerin gut organisiert und strukturiert sein. Man muss immer gucken, was ist machbar? Was ist der entsprechende Rahmen, in dem ich mich bewegen und was ist da umsetzbar? Dann muss ich in der Lage sein, mit den unterschiedlichen Leistungserbringen – auch intern – Lösungen auszuhandeln. Gerade wenn ein Gegenüber sagt, nee, das geht nicht, das haben wir noch nie so gemacht, muss der/die Case Manager*in viel Überzeugungsarbeit leisten. Und man braucht schon ein bisschen ein dickes Fell, denn wenn man konsequent klientenorientiert handelt, gehört es leider dazu, dass man nicht von allen immer geliebt wird.
Das heißt, es stoßen regelmäßig Organisation und Einzelfall aufeinander?
Ja, man muss dann konstruktiv in den Konflikt gehen, der entsteht, wenn man sagt: Im Interesse meines Klienten wäre es anders besser. Organisatorisch wäre es sicher so einfacher, aber mein Job ist jetzt, tatsächlich zu vertreten, was braucht der Klient und wie können wir das umsetzen?
Welche Rolle spielt die Leitung einer Organisation bei einer Einführung von Case Management?
Die Rolle der Leitung ist ganz entscheidend. Es braucht den klaren Auftrag durch die Leitung mit einem ganz klar festgesteckten Kompetenzrahmen und der Rückendeckung, wenn es in der Umsetzung zu Widerständen kommen sollte. Case Management muss von oben gewollt sein, denn Case Management einzuführen bedeutet einen Veränderungsprozess anzustoßen. Und Veränderungen sind nicht immer populär.
Warum also sollten WfbM Ihrer Meinung nach CM einführen?
Der erste Punkt ist natürlich, dass dieseine gute Chance ist zu analysieren: Wie sind wir denn als Einrichtung aufgestellt? Wie attraktiv sind wir für die Klienten?Das ist ja auch ein wichtiges Thema, weil sich zukünftig immer mehr Flexibilisierung entwickeln wird, auch dadurch, dass inklusive Ansätze stärker verfolgt werden sollten. Da hilft es sich einfach mal zu hinterfragen, auch danach, wie die eigenen Organisationsstrukturen, die Funktionen, die Zuständigkeiten aufgeteilt sind.
Und zum Zweiten erreiche ich durch Case Management eine gute Bindung an den Klienten. Denn ich weiß, dass ich am Ende die richtigen Klienten am richtigen Ort habe. Oft ist es ja so, dass man Klienten behält, die gar nicht mehr richtig bei einem aufgehoben sind. Andere wiederum versucht man weiterzugeben,weil man einfach keine Möglichkeiten hat, mit ihnen richtig umzugehen.
So lassen sich Konflikte vermeiden und Abbrüche verhindern, die später entstehen, weil man am Anfang nicht gut genug geschaut hat: „Was will der Klient, was braucht der Klient, was muss man an Voraussetzungen schaffen, damit es auf lange Sicht gut funktioniert?“ Das kann Case Management erreichen, man bekommt die Belange von den Menschen mit Behinderung besser in den Blick – mit all seinen positiven Nebenwirkungen.
Was muss gegeben sein, damit Case Management in Werkstätten funktioniert?
In Werkstätten sollte man muss genau gucken, in welchem Rahmen Case Management eingesetzt werden soll. Der Rahmen kann ganz unterschiedlich sein, sollte aber definiert werden. Zum Beispiel, dass man Anteile vom Case Management für den gesamten Aufnahmeprozess einsetzt oder für den Eingliederungsprozess innerhalb der Werkstatt. Möglich ist auch Case Management für Themen wie Mitarbeitergespräche oder eine regelmäßige Prüfung, ob jeder noch im richtigen Arbeitsbereich, am richtigen Arbeitsplatz ist. Oder ob jetzt etwas Anderes angesagt wäre - also nach Übergangsbedarfen zu schauen. Und da ist es schon sehr hilfreich, wenn Tools aus dem Case Management genutzt werden.
Ein vollumfängliches Case Management, das wirklich übergeordnet für alle Belange des Klienten zuständig ist, macht vor allem für große Komplexanbieter Sinn.
Für Werkstätten jemanden zu haben, bei dem alle Fäden zusammenlaufen und der sich auch in einem absteckten Rahmen als Anwalt der Klienten versteht und das mit Elementen des Case Managements, kann viel Neues bringen.
Vielen Dank für das Gespräch!
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