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Wer mittendrin aufwächst, nimmt sein Leben selbst in die Hand

Ein Gespräch mit Franz Wolfmayr

Bild Wer mittendrin aufwächst, nimmt sein Leben selbst in die Hand
Franz Wolfmayr (Foto: Bärbl Weissensteiner)

 04. März 2025 |  Miachaela Böhm | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Im Gespräch mit...

Franz Wolfmayr ist Experte im Aufbau inklusiver gemeindenaher Dienstleistungen für Menschen mit Unterstützungsbedarf. Als Interessenvertreter und Präsident von einschlägigen Dachverbänden arbeitete er seit 30 Jahren auch an der Entwicklung entsprechender Gesetze und Rahmenbedingungen mit und kritisiert die mangelnde Inklusion in Österreich, vor allem im Bereich der Arbeit. Im Interview erzählt er, wie es besser ginge und dass gute Praxis längst Alltag ist. Aber eben nicht überall.

KLARER KURS: Was halten Sie vom Ergebnis des Forschungsberichts "Lohn statt Taschengeld"?

Franz Wolfmayr: Der Bericht hat gezeigt, dass ein Systemwechsel möglich ist. Aber wir brauchen keine neuen Studien mehr. Wir wissen, was getan werden müsste, damit Menschen mit Behinderungen ein aktives Leben inmitten der Gesellschaft führen können. Die Studie hat aber das Grundproblem noch einmal deutlich gemacht, das es nicht nur in Österreich gibt, sondern in vielen europäischen Ländern. Wir haben versäulte Zuständigkeiten, ein Nebeneinander an Politik und Verwaltung mit eigenständigen Finanzierungen und eigenen Gesetzen. Und das Leben beeinträchtigter Menschen spielt sich zwischen diesen Säulen ab. Für Personen, die eigentlich nicht arbeitsfähig sind, sind die Länder zuständig. Für Personen mit Beeinträchtigung, die als arbeitsfähig gelten, ist es der Bund. Geht es um Rehabilitation, fällt das in die Zuständigkeit der Pensionsversicherung, nicht aber bei Langzeitarbeitslosigkeit und so weiter.

Was wäre zu tun?

Wir müssten 14 Gesetze in Österreich ändern. Das haben wir in unserem Zentrum für Sozialwirtschaft mithilfe von Juristen und Juristinnen analysiert. Dazu gehört unbedingt, dass Menschen mit Behinderung einen Arbeitsvertrag erhalten, sozialversicherungspflichtig beschäftigt werden und Lohn bekommen. Wir schlagen vor, solche Veränderungsprozesse in einem Reallabor (regulatory sandbox) zu entwickeln und aus den individuellen Geschichten Schlüsse für die gesetzlichen Anpassungen zu ziehen und erst nach einer Bewertung umzusetzen. Wichtig ist auch die notwendige Schul- und Ausbildung, damit sie ihre Arbeit gut machen können. Der andere wesentliche Teil betrifft die Existenzsicherung, aber nicht so, wie es in Österreich praktiziert wird, wo jemand immer wieder aufs Neue seine Einkommenssituation offenlegen und Bedürftigkeit nachweisen muss. Das ist entwürdigend. Warum wird es nicht wie in Norwegen gehandhabt, wo Menschen mit Förderbedarf ein Grundentgelt erhalten, ohne aufs Amt zu müssen.

Sie kritisieren, dass Inklusion oft zu spät kommt. Wie geht es besser?

In der Oststeiermark, wo ich früher Sonderschullehrer war, haben wir einen Paradigmenwechsel geschafft. Mit Inklusion beginnen wir nicht erst nach der Schule, die geht los mit der Geburt des Kindes. Ein wesentlicher Baustein ist die Familienbegleitung. Wir unterstützen die Familien, vor allem die Mütter, an denen ganz viel hängt. Niemand soll vor Scham aus der Gemeinde wegziehen, wie das früher oft geschehen ist, oder die Kinder zu Hause verstecken. Die Kinder sind vielmehr Teil der Gemeinde, sie sind bei Faschingsfesten und bei Gottesdiensten dabei, sie kaufen sich ein Eis oder steigen in den Schulbus. Die Gemeinde kennt sie und sie kennen die Gemeinde. Als Jugendliche und Erwachsene sind sie immer noch Kunden in der Eisdiele und später Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in den Betrieben und Bürger und Bürgerinnen mit Ideen und Forderungen. Inklusion beginnt bei der Geburt und endet mit dem Sterben.

Wie funktioniert Vermittlung in Arbeit?

Klar, es ist kein Honiglecken, Unternehmen zu finden. Aber wir haben Erfahrung aus 35 Jahren, verfügen mittlerweile über eine große Arbeitsvermittlung und konnten bislang 15.000 Menschen in Arbeit bringen. Auch damit, dass wir den Unternehmen solche Arbeiten abnehmen, wie die richtigen Anträge bei der richtigen Behörde zu stellen.

Keine Behindertenkarriere, wie Sie das nennen?

Nein. Keine oft lebenslange Abhängigkeit von Institutionen, die darauf konditioniert, dass einem geholfen wird. Dagegen sind Menschen mit einem normalen Lebensweg aktiv und gewohnt, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu kümmern.

Warum gibt es nicht mehr Nachahmer?

Das frage ich mich auch.

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