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Wer zentriert wen?

Kurze Anmerkungen zur Person(en)zentrierung

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 28. Februar 2023 |  Heinz Becker | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Weiterentwicklung der beruflichen Teilhabe, Kostenfreie Artikel, Gastbeitrag

Die Geschäftsführerin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Sigrid Arnade hat schon 2012 in einem Interview auf einen Etikettenschwindel in der Behindertenhilfe hingewiesen. Begriffe wie Inklusion, Personenzentrierung oder Selbstbestimmung würden schnell in den Mund genommen, ohne dass die Inhalte geändert würden. Sie schließt mit der Aufforderung: "Klaut nicht unsere Begriffe, sondern verwirklicht unsere Konzepte."

In der Tat hat die Behindertenhilfe eine jahrzehntelange Übung darin, Begriffe zu übernehmen, ohne ihre Praxis groß zu verändern. In den 1980er Jahren wurde plötzlich alles, was wir bisher gemacht hatten, zur Therapie. Es gab Basteltherapie, Balltherapie, Gartentherapie, Schwimmtherapie, Freizeittherapie, Unterhaltungstherapie, Waldtherapie. Alltägliches Handeln mit behinderten Menschen war kaum noch möglich, alles hieß nun Therapie. Etwas später, als die Therapiephase vorbei war, haben wir nicht mehr therapiert, auch nicht einfach betreut, sondern assistiert. Nun wurde alles, was wir bisher gemacht hatten, Assistenz, und wenn es gar nicht gepasst hat, nannten wir es "intervenierende Assistenz".

Etwas später erlaubten wir behinderten Menschen die Auswahl zwischen Marmelade oder Käse auf ihr Frühstücksbrot und nannten das "Empowerment". Von Inklusion will ich jetzt gar nicht anfangen. Alles Mögliche wird mit dem Begriff "Inklusion" veredelt. Kürzlich habe ich gehört, dass es einen Zahnarzt gibt, der sagt, er betreibe inklusive Zahnmedizin. Dieser behandelt Menschen mit einer geistigen Behinderung. Das ist sehr gut, aber nicht alles, was sehr gut ist, ist inklusiv. Wenn ein Heizungsmonteur in einem Heim für behinderte Menschen die Heizung repariert, betreibt er ja auch nicht inklusives Klempnerhandwerk.

Und so könnte man viele Beispiele aus dem nahezu gesamten Hilfesystem für behinderte Menschen nennen, die in der Regel immer noch Sondereinrichtungen vom Scheitel bis zur Sohle sind, sich selber aber gern als inklusiv bezeichnen. Gern schmücken sich diese Einrichtungen auch mit dem Begriff Sozialraumorientierung für jedweden Kontakt zur Außenwelt. All das hat aber mit Therapie, Assistenz, Inklusion oder Sozialraumorientierung herzlich wenig zu tun.

In letzter Zeit nun begegnet uns bei jeder Gelegenheit der Begriff "Personenzentriert". Was aber damit gemeint ist, kann sehr unterschiedlich sein. Mindestens drei sehr verschiedene Konzepte und Ideen können dahinterstehen. Klaus Dörner hat 2016 einen Artikel veröffentlicht mit der Überschrift "Es ist verboten, Personen zu zentrieren". Das hat mich zunächst etwas irritiert. Aber beim Lesen habe ich gemerkt: der meint mich gar nicht. Er meint eine Auslegung des Begriffs "Personenzentriert", die genau in die eben aufgezählte Reihe passt.

Denn Personenzentrierung ist scheinbar ein allgemeines Prinzip der Behindertenhilfe geworden. Wer kennt eine Einrichtung, die von sich sagt, ihre Angebote seien nicht personenzentriert? Das ist eine rhetorische Frage. "In der Lebenshilfe wird seit vielen Jahren personenzentriert gehandelt und gearbeitet." Hat schon vor zehn Jahren der LV Bayern der Lebenshilfe festgestellt. Dann ist ja alles gut, möchte man ausrufen.

Alles ist personenzentriert, so wie mal alles Therapie war oder Inklusion nach wie vor ist. Die Schweizer Psychologin Marlis Pörtner hat gern das Bild verwendet, dass auf die althergebrachte Praxis etwas personenzentrierte Soße gegossen wird, damit sie besser aussieht und keiner merkt, dass unter der Soße alles wie immer bleibt.

Das ist ein Begriff von Personenzentrierung, der nur als Schlagwort verwendet wird, ohne dass die Haltungen, Inhalte, Strukturen und der Alltag dahinter geändert werden. Die zweite Bedeutung, die der Begriff "Personenzentrierung" hat, hat damit überhaupt nichts zu tun. Sie kommt ursprünglich aus der Selbsthilfebewegung behinderter Menschen in den USA, dann aus der Grundhaltung der Persönlichen Zukunftsplanung (vgl. z.B. Stefan Doose 2020).

Und als drittes Konzept gibt es noch die Personzentrierung. Das ist ein Konzept, welches im Ergebnis durchaus artverwand ist mit der personenzentrierten Haltung der Persönlichen Zukunftsplanung. Es geht zurück auf den amerikanischen Psychologen und Pädagogen Carl Rogers. Hier fällt zunächst die andere Schreibweise auf. Rogers nannte seine Prinzipien zuerst "client-centered", dann "person-centered". Das erste wurde im Deutschen als "Klientenzentriert" übersetzt. Das kann ja noch als Akkusativ oder "Fugen-en" durchgehen. Für die zweite Bezeichnung "person-centered" heißt es aber „personzentriert“. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass es sich um eine konkrete Person dreht, und nicht allgemein um Personen wie in Personenbeförderung, Personenkontrolle oder Personenwaage. Auch wenn jede Person immer erst durch die Gemeinschaft mit anderen zur Person wird, ist der Ausgangspunkt der Betrachtung die jeweils einzelne Person in ihren sozialen Beziehungen.

Die Personzentrierte Haltung wurde von der Schweizer Psychologin Marlis Pörtner konkretisiert und auf die Arbeit mit Menschen mit Behinderung übertragen. Seitdem hat sich das Personzentrierte Konzept weit verbreitet. Ihr Buch "Ernstnehmen, Zutrauen, Verstehen" wurde bislang in sechs Sprachen veröffentlicht und ist in Deutschland 2021 in der 14. Auflage erschienen.

Das Personzentrierte Konzept bietet eine Sammlung von Werkzeugen, "Tools", die in der konkreten Praxis helfen, den Alltag menschenwürdig zu gestalten, das eigene Handeln und die Anforderungen der Institution zu überprüfen, zu reflektieren und zu ändern. Es sind keine "wenn-dann-Regeln", sondern ein Gerüst zur Orientierung. Immer muss hinterfragt werden, was der einzelne Leitsatz in der konkreten Situation mit der konkreten Person unter den aktuellen Rahmenbedingungen hier und jetzt bedeuten kann. "Diese Arbeitsweise ist in erster Linie eine Haltung, nicht eine Methode." schreibt Marlis Pörtner. "Doch um diese Haltung konkret im Alltag zu verwirklichen, braucht es einen verbindlichen auf die betreffende Tätigkeit zugeschnittenen methodischen Rahmen, an dem sich das Handeln orientieren soll und überprüfen lässt. Diesen Rahmen stellt der Personzentrierte Ansatz zur Verfügung."

Klaus Dörner wendet sich in seinem oben genannten Artikel gegen ein Verständnis von Personenzentrierung, aus dem eine Praxis erwächst, in der an der Person herumgedoktert, gewerkelt und gefördert wird, ohne den sozialen Raum, in dem sich die Person bewegt, zu berücksichtigen und ihn möglichst sogar noch durch den Raum unseres professionellen und exklusiven Hilfesystems zu ersetzen. "Personzentriert arbeiten", schreibt Marlis Pörtner, "bedeutet nicht, eine Person losgelöst von ihrem Umfeld zu sehen".

"Der Mensch wird am Du zum Ich" ist ein viel zitierter Satz von Martin Buber. Welches "Du" bieten wir einem Menschen mit Behinderung in unserem Hilfesystem heute an? Der Mensch als soziales Wesen, und zwar ausnahmslos jeder Mensch, gewinnt seine Identität immer nur in sozialen Prozessen und kann sie auch nur in sozialen Prozessen aufrechterhalten. Deswegen ist es bedeutsam, dass inzwischen gesellschaftliche Teilhabe zum Ausgangspunkt und Ziel aller sozialstaatlichen Interventionen geworden ist, jedenfalls auf dem Papier. Andererseits aber ist jeder Mensch auch eine von allen anderen Menschen verschiedene Person, und wir als Profis müssen auf diese Unterschiedlichkeit eingehen.

In dieser gegenseitigen Bedingung von Person und Sozialraum bewegen wir uns. Das Arbeitsfeld Personzentrierter Unterstützung ist also nicht nur die Person, sondern auch und wesentlich ihr Umfeld, ihre Netzwerke, ihr Sozialraum. Und wenn der nur sehr ungenügend entwickelt ist, d.h. wesentlich nur aus bezahlten Profis und anderen Menschen mit ähnlichen Behinderungen besteht, dann müssen wir dieses Feld öffnen und neue Netzwerke knüpfen. Aber Netzwerke sind nicht per se gut. Sie können unterstützen, aber auch bevormunden, unterdrücken, überversorgen und die Menschenwürde missachten. Netzwerke haben auch nicht gute Ziele, nur weil sie Netzwerke sind.

Wir kennen das: Enge Beziehungen in der Nachbarschaft garantieren keinesfalls konfliktfreies Zusammenleben. Und die tolle Gemeinde, in der man sich gegenseitig hilft und an deren Leben behinderte Menschen ganz selbstverständlich teilhaben, kann die gleiche sein, in der eine Unterkunft für Migranten angezündet wird, weil „die hier nichts zu suchen haben". Es ist professionelle Aufgabe, das Miteinander im Sozialraum zu gestalten. Und auch das gehört zu Personenzentriertem Arbeiten. Und das ist es, was Klaus Dörner meint.

Hier zeigt sich, dass es auch für die Anwendung von Methoden einer Grundlage bedarf, eines Menschenbildes, eines professionellen Habitus, der hilft, die schmale Grenze zwischen Fürsorge und Unterdrückung zu erkennen. Und hier ergänzen sich der Personzentrierte Ansatz nach Pörtner und die Methoden, Haltung und Prinzipien der Persönlichen Zukunftsplanung.

"Die Behindertenhilfe braucht ein neues Selbstverständnis für die Zeit nach der Aussonderung." hat Roland Frickenhaus 2017 geschrieben. Dieses Verständnis ist in Ansätzen entwickelt, aber es sind weiterhin viele Veränderungen in Strukturen und Haltungen notwendig. Ein wirkliches Verständnis von Personzentrierung gehört meines Erachtens unbedingt dazu.

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