WfbM-Sozialdienst zwischen Überforderung und Gestaltungsfreiheit
Bericht von der 53° NORD-Sozialdiensttagung in Kassel

Eine Tagung im Zeichen des Austauschs. Was schon zu Beginn auffiel: Die 53° NORD-Jahrestagung der WfbM-Sozialdienste 2025 war stark weiblich geprägt. 40 der 41 Teilnehmenden waren Frauen. Unter dem Titel "Wie organisieren wir uns effektiv, wo legen wir unsere Schwerpunkte?" trafen sich die Fachkräfte am 2. und 3. April in Kassel, um über aktuelle Herausforderungen zu diskutieren. Tagungsleiterin Kristin Surmann setzte von Beginn an auf Praxisnähe: Kleingruppeninterviews und moderierte Diskussionen standen im Mittelpunkt. Die Teilnehmerinnen reflektierten ihre Berufsmotive, tauschten sich über Erfolge aus und benannten Belastungen – eine Arbeitsatmosphäre, die Raum für kritische Reflexion und konkrete Lösungsansätze bot.
Bestandsaufnahme: Zwischen Zufriedenheit und Belastung
In einer ersten Runde betonten die Teilnehmerinnen ihre grundsätzliche Berufszufriedenheit:
- Gestaltungsfreiheit: "Ich arbeite eigenverantwortlich, kein Tag ist wie der andere. Neue Herausforderungen halten die Arbeit spannend."
- Wirksamkeit: "Es motiviert, die persönliche Entwicklung der Beschäftigten zu begleiten und sie zu stärken."
- Teamarbeit: Die kollegiale Unterstützung und fachliche Vernetzung wurden als zentrale Ressource genannt.


Herausforderungen: Dokumentationsdruck und steigende Erwartungen
Doch die Kehrseite des Berufsalltags wurde ebenso deutlich:
- Teilhabeplanverfahren: Die Umstellung auf halbjährliche bis jährliche Entwicklungsberichte (vorher alle 3-5 Jahre) belastet bei einem unveränderten Personalschlüssel von 1:120. Eine Teilnehmerin kommentierte: "Die Behörden stocken deshalb ihre Stellen auf, wir nicht. Die Dokumentationspflicht geht zu unseren Lasten."
- Personenzentrierung vs. Realität: Das Bundesteilhabegesetz (BTHG) fordert mehr Entwicklung zur Selbstbestimmung, doch gleichzeitig steigt der Anteil von Menschen mit komplexen Verhaltensweisen, die intensive Betreuung benötigen.
- Externe Erwartungen: Politik, Kostenträger und Medien drängen auf mehr Inklusion durch Außenarbeitsplätze oder Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt. In der Realität bleibt die Klientel der Werkstätten heterogen.
Lösungsansätze: Von Agilität bis Digitalisierung
Drei eingestreute Expertengespräche brachten Anregungen und bereits erprobte Praxis in die Veranstaltung:
1. Organisationsentwicklung: Agile Strukturen schaffen
Kristof Guss, Bereichsleiter der Osnabrücker Werkstätten, präsentierte einen erfolgreichen Change-Prozess seines Unternehmens. Inspiriert von Frederic Lalouxs Buch "Reinventing Organizations" und dem niederländischen Pflegemodell Buurtzorg setzt sein Team auf:
- Agiles Management: Flache Hierarchien, klare Rollenverteilung und Tandem-Führung.
- Transformative Autorität in Führung (TAF): Führungskräfte verstehen sich als Begleiter, nicht als Kontrolleure.
- Ergebnisse: Schnellere Entscheidungen, weniger Doppelarbeit, höhere Transparenz.
Guss betonte jedoch: "Ein solcher Wandel braucht Rückhalt der Leitung. Ohne deren Überzeugung und eigenes agiles Mindset scheitert er."
2. Digitales Berichtswesen: Die Grafschafter Aktivitäts- und Teilhabeanalyse (GATA)
Tanja Neumann (Lebenshilfe Nordhorn) stellte mit der Grafschafter Aktivitäts- und Teilhabeanalyse ein digitales Tool zur Vereinfachung der Dokumentation vor:
- ICF-basierte Zielplanung: Die Software nutzt Textbausteine und Formulierungshilfen, die sich an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit (ICF) orientieren.
- Integration in bestehende Systeme: GATA ist kompatibel mit gängigen Softwareprogrammen wie Mikos und Vivendi.
- Anwendungsbereiche: Das Tool wird nicht nur in Werkstätten, sondern auch in Wohnheimen und der Jugendhilfe eingesetzt.
3. Die Sicht der Leistungsträger: Zwischen Prüfung und Kooperation
Hartmut Baar, Abteilungsleiter des LWL-Inklusionsamts Soziale Teilhabe und ehemaliger Werkstattleiter, brachte die Perspektive der Kostenträger ein:
- Rehabilitation durch Produktion: "Im Werkstattauftrag steht nicht Produktion gegen Rehabilitation, das eine bedingt das andere. Arbeitsprozesse müssen lernförderlich sein, um Teilhabe zu ermöglichen."
- Personenzentrierung als Daueraufgabe: "Das BTHG hat nichts grundlegend Neues erfunden. Individuelle Förderung war immer Kern der Werkstattarbeit."
- Dokumentation und Mittelverwendung: Baar räumte ein, dass Leistungsträger nur quantitative Prüfungen vornehmen können ("Wir zählen durch"). Qualität werde vorausgesetzt, aber nicht gemessen. Sein Appell: "Nutzen Sie Spielräume, organisieren Sie sich prozessorientierter und effizienter, reduzieren Sie Gewerke und gehen Sie stärker in den Sozialraum."


Konkrete Schritte: Was bleibt, was geht, was wird neu?
Die Tagung war trichterförmig konzipiert. Sie verlief von einer offenen Bestandsaufnahme, über fachlichen Input zu der Sondierung von möglichen Handlungsschritten in der eigenen Organisation. In der Abschlussphase planten die Teilnehmerinnen konkrete Veränderungen für ihre Praxis und diskutieren, was sie behalten, in Frage stellen und verändern wollten:
Beibehalten
- Individuelle Förderung und enger Kontakt zu den Beschäftigten.
- Flexibilität, Gestaltungsfreiheit und fachliche Schwerpunktsetzung.
- Netzwerkarbeit und Teamzusammenhalt.
Hinterfragen oder beenden
- Überflüssige Dokumentationen mit veralteten Systemen.
- Die Rolle als "Mädchen für alles" – etwa unklare Zuständigkeiten für Feste oder Konflikte.
Neu gestalten
- Strukturen: Eindeutigere Aufgabenklärung und Aufgabenverteilung, projektorientiertes Arbeiten mit allen Ebenen der Werkstatt, auch mit Beschäftigten.
- Kooperation und Transparenz: Verbesserte Zusammenarbeit zwischen allen Professionen und Ebenen der Werkstatt und mit externen Partnern.
Dokumentation: Effektivere Organisation des Berichts- und Planungswesen.
Fazit: Vom Diskurs zur Umsetzung
Die Tagung verknüpfte geschickt Eigenarbeit mit Anregungen von außen: Durch Best-Practice-Beispiele wie die Osnabrücker Werkstätten oder das GATA-Programm erhielten die Teilnehmerinnen konkrete Werkzeuge für ihren Alltag. Gleichzeitig betonte Hartmut Baar als Vertreter der Leistungsträger, dass im Rahmen bestehenden Strukturen Lösungen für die benannten Herausforderungen möglich sind – etwa durch kluges Priorisieren oder das Ausschöpfen von Gestaltungsspielräumen.
Ob es auch an der überwiegend weiblichen Zusammensetzung lag? Die Veranstaltung war geprägt von lebhaften Diskussionen und viel Austausch. Doch der schwierigste Teil steht noch aus: Die Ideen in die Tat umzusetzen. Wie eine Teilnehmerin resümierte: "Wir haben erkannt, was zu tun ist. Jetzt brauchen wir den Mut und das Durchhaltevermögen, unsere alten Muster zu durchbrechen." Und im besten Fall eine Leitungsebene, die notwendige Veränderungen auch mittragen wird.
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