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Der Sinn des Lebens

Wenn wahnhafte Zustände manchmal die besseren Antworten geben

Bild Der Sinn des Lebens

 18. März 2025 |  Cornelia Schmitz | Textbeitrag

  Gastbeitrag, Kommentar

Der Sinn des Lebens ist nicht 42. Diese Zahl ist die Antwort auf die Frage, wieviel 6 mal 7 ist, und weiter nichts. Das knackt das Rätsel schon mal nicht. Doch wollten Menschen seit Anbeginn ihrer Geschichte wissen: Wo kommen wir her? Wozu sind wir da? Wo gehen wir hin?

Gerade psychisch erkrankte Menschen mit ihrer ganz besonderen Kennzeichnung (und ihren Depressionen) möchten erkennen, ob ihre Existenz irgendeinen höheren Grund im Sinne der Philosophie, oder auch des Glaubens hat. Sie wollen nicht hinnehmen, dass das Leben vielleicht nur ein Zufall war, der ebenso zufällig wieder aufhört. Sie wollen nicht denken müssen, dass das Leben im Prinzip darin besteht, dass sich alles gegenseitig verspeist. Manche von ihnen haben (im Wahn) ein sehr spezielles Verhältnis zum lieben Gott.

Im Gegensatz dazu beschäftigen sich die normalsterblichen Menschen wesentlich weniger mit der grundsätzlichen Seins-Frage. Etliche sind gläubig, vertrauen schlicht auf Bibel, Koran oder Buddha und das war es. Sie hoffen vielleicht, ihrem persönlichen Leben einen Sinn zu geben, mit Liebe, Kindern, dem Beruf, Hobbys, materiellen Dingen. Sie versuchen, einigermaßen über die Runden zu kommen. Manche kommen zu Ruhm und Macht, andere machen Kunst, oder finden ihre Berufung darin, anderen zu helfen. Praktisch jeder zuckt die Achseln, wenn es um eine tiefere Bedeutung gehen soll.

Doch ich war noch sehr jung (auch schon einigermaßen depressiv); ich glaubte nicht mehr an Gott und konnte schlicht nicht begreifen, WARUM Leute einfach mit ihrem Leben weitermachten, wenn sie doch gar nicht wussten, wozu?

Was zum Kuckuck sollte das Ganze? Wozu aufstehen, wenn man doch gar nicht wusste, welchem Zweck das alles dienen sollte?

Ich las dicke Bücher, war überhaupt ein lesendes (einsames) Kind und stieß schließlich auf Heraklit, einen griechischen Philosophen um 500 v.Chr., der Folgendes gesagt hat:

"Das Weltall hat weder der Götter noch der Menschen einer gemacht, sondern es war immer und ist und wird sein ein ewig lebendiges Feuer, gesetzmäßig sich entzündend und wieder löschend. Aus dem einen allwaltenden göttlichen Urfeuer, welche reine Vernunft, Logos ist, geht durch Zwiespalt und Kampf die Vielheit der Dinge hervor ("Weg hinab"); Eintracht und Friede bringt Erstarrung, bis das Erstarrte wieder zur Einheit des Urfeuers zurückkehrt ("Weg hinauf"). In diesem ewigen Auf und Ab wird aus Einem alles und aus allem Eines. Alles fließt, aber in diesem Fließen waltet der Logos als Gesetz, das nur wenige erkennen. So ist Gott Tag und Nacht, Sommer und Winter, Krieg und Frieden; gut ist schlecht und schlecht ist gut, in allem ist Gegensätzliches vereint und ist doch verborgene Harmonie, und diese unsichtbare Harmonie ist besser als die sichtbare Gegensätzlichkeit...” *

Wow. Das hat einer schon vor 2.500 Jahren gewusst?

Die Sinn-Frage faszinierte mich und vielleicht gehört das zu einer psychischen Ausstattung wie der meinen. Ich bin bipolar, habe starke Stimmungsschwankungen, von himmelhochjauchzend bis hin zu Tode betrübt. Manchmal gerate ich in Ekstase, an vielen anderen Tagen liege ich schachmatt im Bett, dazwischen bin ich "normal".

Natürlich versuch(t)e ich, meinem eigenen Leben einen Sinn zu geben, es lesend und schreibend zu bewältigen; ich versuchte aber auch, schreibend den Weltenplan zu verstehen. Ich schrieb ein Buch, über Jahrzehnte hinweg, in dem ich die Chronik Deutschlands mit meinem eigenen Leben verwob.

Der Text ist soweit geordnet, flüssig, sogar witzig, und nennt sich: "Das Gespött der Leute". Mein Verlag (der Verlag, der auch meine Krimis herausbrachte) hat lange diskutiert, ob sie es veröffentlichen könnten. Schlussendlich hat er sich dagegen entschieden, andere Verlage antworteten erst gar nicht.

Und was steht in dem Buch? Nun, vor allem ein Sinn-Erlebnis.

Ich teile das Folgende mit, weil ich mir gut vorstellen kann, dass andere psychisch erkrankte Menschen auch solche Erlebnisse haben, und sie sollten sich dessen nicht schämen:

Da war also diese Nacht (oder war es ein Tag? Mehrere Tage, mehrere Nächte?) vor vielen, vielen Jahren, sehr lange her, als ich vollkommen in Verzückung geriet. Vorher hatte ich mich schon monatelang unerhört wohl gefühlt, so richtig eins mit dem Weltall und allem. Doch in dieser Nacht (oder Tag; es muss ein Tag gewesen sein, denn die Sonne schien strahlend auf meinen Vorhang, so dass er rein weiß schien) offenbarte sich mir der höhere Sinn meines Lebens:

Ich war dazu ausersehen, ein Buch zu schreiben, nicht irgendein Buch, sondern das Buch, ein Werk, das sämtliche Fragen der Menschheit beantworten würde, selbstverständlich auch die Frage nach dem Sinn.

Und so fühlte es sich an: Wie ein unmittelbarer Einblick in Gottes Plan, wie ein Puzzle, jedes Teilchen an seinem Platz, ein vollständiges Bild, die Welt als das Große und Ganze.

Es war, als wären alle Dominosteine nacheinander umgefallen, als hätte ich gesehen, wie sie aufgestellt wurden, wie sie purzelten und schließlich ein wunderschönes Muster ergaben. Es war eine Zeit (ohne Zeit) der tiefen Ruhe, ein Blick auf die Ewigkeit, eine ruhige Gelassenheit, ein Frieden.

So. Ich weiß natürlich, wie sich das alles anhört, aber: Wer wollte über Erleuchtung richten? Wer kann sie beurteilen? Können wir Buddha befragen? Nein.

Nehmen wir also für einen Augenblick an, ich sei "erleuchtet" worden. Welche Erkenntnisse gewann ich?

Für mich fühlt(e) es sich in diesem Moment so an, als lebten wir mit all den anderen Lebewesen, also Pflanzen, Tieren und Menschen in einer Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft, dieses "Wir", das nannte ich Gott. Gott sei nicht tot, ich definierte ihn nur anders, nämlich als ein Ganzes, als das "Wir".

Ich definierte Gott als die Gesamtheit aller Menschen, Tiere und Pflanzen, die je gelebt haben, und je leben werden; als die Summe unserer vergangenen und zukünftigen Ideen und Taten.

Ich dachte (in diesem Moment, sehr lange her):

Das Wir ist ewig; insofern leben wir alle bereits in der Ewigkeit, wir sind unsterblich. Wir formen uns um, wir stülpen uns aus, wir drehen und wenden uns in alle Richtungen, gehen hierhin und dorthin und manchmal verschwinden wir fast ganz. Wir empfinden gleichzeitig Ewigkeit und Endlichkeit, also Veränderung.

Das Einzige, was ist, ist, dass etwas ist. Dass etwas ist, wird nie aufhören.

Wir Menschen werden nacheinander, und jeder an dem für ihn vorgesehenen Zeitpunkt zu Verstand kommen, bis wir eines Tages alle gemeinsam, mit den Pflanzen und den Tieren, alle Lebewesen gemeinsam, die lebten, gelebt haben und noch leben werden, einen gemeinsamen Verstand entwickeln. Und der Augenblick, in dem wir diesen gemeinsamen Verstand entwickeln, das ist der Schöpfungsmoment; der Moment, in dem etwas aufhört, und etwas wieder von vorn beginnt. Und das, was beginnt, ist die Schöpfung des Universums, das was aufhört, ist die Vollendung des Universums.

Es endet und beginnt der Schöpfungsplan, so wie er seit Ewigkeiten beginnt und endet, und wie er sich bis in alle Ewigkeiten fortsetzt.

Denn wenn die Zeit unendlich ist, die Materie aber endlich, kommen wir alle immer wieder, in dieser oder jener Gestalt. Helmut Schmidt hat einmal gesagt: Atome bleiben. Und so denke ich mir Uns als eine Art Gestaltwandler.

Es leiten sich hieraus Handlungsempfehlungen ab:

Man achtet darauf, dass der Moment gelingt, das geschieht besser, wenn man mit anderen in Frieden lebt, als Teil der Gemeinschaft. Daraus ergibt sich zwingend, dass Kooperation stärker ist als Konkurrenz. Es entfällt auch die Angst vor dem Tod, denn alles lebt für immer fort, als eines. Es liegt aber auch ein Verhängnis darin: zu denken, dass jeder einzelne (auch schlimme) Moment immer wiederkehrt, kann einem in der Depression starke Angst machen; es kann einen zermalmen.

Mittlerweile ist die Idee der ewigen Wiederkehr praktisch eine Binse, ist populär geworden, ein Filmstoff. Man findet den Gedanken auch bei Nietzsche, den ich später las.

Aber für mich war es in dieser Nacht, an diesem Tag, ein spektakuläres Erlebnis. Der Sinn des Lebens, halleluja. Ich weiß, wie das klingt, aber so habe ich mir das damals vorgestellt. Ich muss sagen, es hat ausgesprochen großen Spaß gemacht.

Ich teile es mit, weil der Wahn, diese Besonderheit, auch produktiv sein kann, weil in ihm Kreativität und Originalität liegt, nicht nur Chaos und Tragik. Weil viele, viele Patienten, die ich getroffen habe, durchaus tiefe Gedanken hatten, auf großartige Ideen gekommen sind. Und wer will denn beurteilen, inwieweit sie gerechtfertigt oder "wahr" sind?

In der Psychiatrie geht man über solche Gedanken und Gefühle gerne schnell hinweg, man will den Patienten erden, ihn zurück in die Realität bringen, zurück in den Alltag, der Patient soll auf dem Boden der Tatsachen bleiben. Man will weglenken von den Wahninhalten, am besten gar nicht darüber reden, an etwas anderes denken. Schon an den Gesichtern der Therapeuten, an ihrem sorgenvollen, zweifelnden Blick, kann man ablesen, dass man über "Erweckungserlebnisse" besser die Klappe hält, wenn man nicht in der Gummizelle landen will.

Das finde ich schade und kontraproduktiv, denn es liegt ein Sinn im Wahnsinn. Ich habe viel Kraft aus meinem Erlebnis gezogen.

Vielleicht ist das Universum eine Singularität, vielleicht auch nicht.

Eines ist ganz klar, nämlich der Sinn meines Lebens. Ich wollte erkennen und mitteilen.

Bücher schreiben, dicke Bücher.

 


* Dieses Zitat finde ich leider nicht mehr wieder.

 

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