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Kann man in einer deutschen WfbM Schriftsteller werden?

Überlegungen zum Werkstättensystem

Bild Kann man in einer deutschen WfbM Schriftsteller werden?
Dieter Basener

 13. Mai 2024 |  Dieter Basener | Textbeitrag

  Haltung, Wahlfreiheit und Selbsbestimmung, Kostenfreie Artikel, Kommentar

Es klingt wie der Einfall eines Drehbuchautors, aber die Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen: Ein Werkstattbeschäftigter entwickelt sich durch die Unterstützung eines Kunsttherapeuten zu einem vielbeachteten Autor, erhält Literaturpreise und die Ehrenbürgerschaft seiner Heimatstadt. Die Rede ist von Georg Paulmichl und (s)einer sehr bemerkenswerte Werkstattkarriere.

Er besuchte um 1980 eine Werkstatt im Südtiroler Vinschgau. Als er zwanzig Jahre alt war, eröffnete die Werkstatt ein Malatelier. Dessen Anleiter erkannte neben seinem zeichnerischen Talent auch die Sprachbegabung des jungen Mannes, begann, Paulmichls Gedanken niederzuschreiben und fand einen renommierten Verlag. Die Veröffentlichung wurde ein Erfolg und weitere folgten. Georg Paulmichl wurde über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Er blieb weiterhin Werkstattmitarbeiter, aber unternahm lange Lesereisen nach Österreich, Deutschland und in die Schweiz. Zeitungen und Fernsehsender berichteten, Schauspieler rezitierten seine Texte auf der Bühne. Sie wurden vertont, ins Italienische übersetzt. Georg Paulmichl wurde mit Literaturpreisen ausgezeichnet und erhielt als erster Mensch mit „geistiger Behinderung“ die Ehrenbürgerschaft seines Heimatorts Prad. Eine Parkinsonerkrankung setzte seinem Schaffen ein Ende. Er starb mit 59 Jahren. Seine komplette Lebensgeschichte finden Sie hier.

Werkstätten können viele Talente nicht fördern

Diese ungewöhnliche Entwicklung wirft Fragen auf: Wäre die Förderung eines solchen Schreibtalents auch in Deutschland möglich gewesen? Hätte er auch bei uns jemanden gefunden, der seine Fähigkeit erkannte und hätte der den Freiraum gehabt, das Schriftstellertalent zu entwickeln? Und Grundsätzlicher: Was sollen und was können Werkstätten leisten? Wem das Berufsziel des Schriftstellers zu abgehoben erscheint, um das System grundsätzlich zu hinterfragen, der kann darüber nachdenken, ob ein Mensch mit geistiger, psychischer oder schwer körperlicher Beeinträchtigung als Werkstattbeschäftigter Schauspieler oder Musiker werden, mit Kindern oder alten Leuten arbeiten, in einer Tierhandlung, Bibliothek, im Landratsamt, auf der Polizeiwache oder bei der Feuerwehr tätig zu sein.

Andere Strukturen in Südtirol

Das Südtiroler Werkstättensystem ist anders strukturiert als das deutsche. Georg Paulmichls Werkstatt hatte 30 Arbeitsplätze. Die Entgelte waren deutlich niedriger, aber die Werkstatt förderte künstlerische Begabungen und die Integration im Ort. Deutsche Werkstätten sind stärker an der "Normalität der Arbeitswelt" ausgerichtet. Sie verstehen sich als marktorientierte Unternehmen mit besonderem Auftrag. Aber auch bei uns dient Werkstattarbeit nicht der Finanzierung des Lebensunterhalts, ist keine Erwerbsarbeit. Auch sie basieren auf dem Rehabilitationsgedanken. Werkstattarbeit ist Mittel zum Zweck, soll der Persönlichkeitsentwicklung, die Förderung der Stärken und Fähigkeiten dienen, um ein möglichst selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft führen zu können. In dieser Zweckbestimmung stecken drei Anforderungen. Werkstätten sollen

a) die Chance bieten, die eigenen Stärken, Fähigkeiten und Neigungen zu entdecken, die oft außerhalb des begrenzten Arbeitsangebots der WfbM liegen,
b) die Entwicklung dieser Fähigkeiten und ihre Ausübung in einem Berufsfeld ermöglichen,
c) das übergeordnete Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe befördern.

In 60 Jahren hat sich die gesellschaftliche Realität verändert

In ihrer Entstehungszeit in den 60er und 70er Jahren konnten Werkstätten diesen Anforderungen nur begrenzt nachkommen. Es fehlte die gesellschaftliche Akzeptanz für das Thema Behinderung, speziell für geistig behinderte Menschen. Die Gründergeneration wählte daher den Weg des geschützten Umfelds, der "Beschützenden Werkstatt". Nach 60 Jahren Werkstattgeschichte erleichtern die veränderten Bedingungen die Realisierung des integrativen Auftrags und machen eine Neujustierung des Werkstattgedankens möglich. Berufswünsche wie die Kinderpflege oder Altenbetreuung sind jetzt für werkstattberechtigte Personen realisierbar. Auch künstlerische Tätigkeiten können stärker in den Blick genommen werden und auch der Beruf des Schriftstellers ist nicht mehr undenkbar.

Wie Werkstätten mehr Entwicklung und Teilhabe ermöglichen

Was sollte sich also im deutschen Werkstättensystem ändern, damit es mit ihren Möglichkeiten den vielfältigen Fähigkeiten und Berufswünschen der Werkstattberechtigten bzw. Werkstattbeschäftigten besser gerecht wird?

Als Erstes muss es der Entwicklung von Fähigkeiten und dem Erkunden der beruflichen Möglichkeiten einer Person mehr Platz einräumen, als ihm heute in der Werkstatt gegeben wird. Es braucht viel Zeit und Freiraum, um eigene Talente und Wünsche zu entdecken, etwas auszuprobieren. Und es bedarf der pädagogischen Achtsamkeit der Unterstützer. Georg Paulmichl hätte mit 20 nicht von sich aus den Berufswunsch "Schriftsteller" äußern können. Vor der Qualifizierung muss der Berufsbildungsbereich eine ausreichend lange Orientierungsphase bereitstellen, Einblicke in Berufe innerhalb und außerhalb der Werkstatt gewähren und auch ungewöhnlichen Lösungen ermöglichen.

Die zweite Antwort lautet: Werkstätten müssen sich als Finanzierungsmöglichkeit für berufliche Teilhabe und nicht mehr als Gebäude verstehen, ihr Arbeitsangebot auf Betriebe des ersten Arbeitsmarkts ausdehnen und sich der Vielfalt des Wirtschaftslebens öffnen. Auf betrieblichen Qualifizierungs- und Arbeitsplätzen können die Beschäftigen Berufswünsche wie Kindergärtnerinnen, Tierpfleger, Bäckerinnen und sogar Journalisten oder Schauspielerinnen realisieren. Der Kennzahlenbericht der BAGüS 2024 besagt, dass bisher nur 3,7 Prozent aller Werkstattplätze betriebsintegriert sind. Die Öffnung hat den Nebeneffekt, dass sich so auch die Gewinnsituation einer Werkstatt und damit die gezahlten Durchschnittsentgelte verbessern lassen. Mit einem solchen Polster im Rücken kann die Werkstatt auch in ihrem eigenen Arbeitsangebot Freiräume nutzen, um ihrem Auftrag als Förderer und Befähiger besser gerecht werden.

Als Drittes kann die Werkstatt dem Auftrag zu gesellschaftlicher Integration gerecht werden, in dem sie mehr gemeindeintegrierte Dienstleistungen in ihr Portfolio aufnimmt, damit soziale Einbindung ermöglicht und die Chance auf Kontakte in der Gemeinde eröffnet. Dabei lassen sich auch Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen einbeziehen, bei denen weniger der wirtschaftliche Ertrag als vielmehr der Kontakt, die Kommunikation und die erlebte Anerkennung im Vordergrund steht.

Es geht um die Zukunftsfähigkeit der Werkstatt

Mancher Leser mag diese Überlegungen für das heute übliche "Werkstattbashing" halten, aber das Gegenteil ist der Fall. Es geht um den Platz der Werkstatt in einem modernen System beruflicher Teilhabe, um ihre Zukunftsfähigkeit. Die Werkstatt kann in Sachen Entwicklungschancen, Vielfalt und soziale Integration mehr leisten als sie dies heute tut. Das braucht eine Rückbesinnung auf ihre Zielsetzung und eine innere Neuorientierung. Auch die Werkstattgesetzgebung muss auf den Prüfstand gestellt werden Die gesetzlichen Vorgaben zur Gewinnerzielung und zum Entgelt, die die Werkstatt heute an der „wirtschaftlichen Verwertbarkeit der Arbeitsleistung“ ausrichten, sollten überdacht und angepasst werden.

Ob ein Georg Paulmichl und ähnlich Begabte unter solch veränderten Bedingungen auch im deutschen Werkstättensystem zu anerkannten Schriftstellern heranreifen würden, ist nicht sicher. Aber die Chancen dazu wären ungleich größer.

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